6 AZR 56/23

Betriebsbedingte Kündigung - Anforderungen an das Eingreifen der Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO - punktueller Streitgegenstandsbegriff - Reichweite des „kleinen Schleppnetzantrags

Details

  • Datum

    17.08.2023

  • Uhrzeit

    09:15 Uhr

  • Senat

    6. Senat

  • Aktenzeichen

    6 AZR 56/23

  • Art

    mündliche Verhandlung

  • Vorinstanz

    16 Sa 485/21
    Landesarbeitsgericht Hamm

Vorbericht

Sechster Senat Donnerstag, 17. August 2023, 09:15 Uhr

Betriebsbedingte Kündigung – Anforderungen an das Eingreifen der Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO – punktueller Streitgegenstandsbegriff – Reichweite des „kleinen Schleppnetzantrags“

A. (DGB Rechtsschutz GmbH, Kassel) ./.
Achim Thomas Thiele als Insolvenzverwalter über das Vermögen der H. GmbH
(RAe. Husemann, Eickhoff, Salmen & Partner, Dortmund)
– 6 AZR 56/23 –

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit zweier ordentlicher betriebsbedingter Kündigungen.

Der Kläger ist seit 2011 bei der H. GmbH, einem Unternehmen der Stahlindustrie beschäftigt. Über das Vermögen der H. wurde mit Beschluss vom 1. März 2020 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Im Juni 2020 stellte der Gläubigerausschuss der H. einvernehmlich fest, derzeit liege kein annahmefähiges Angebot zur Übernahme des Geschäftsbetriebs vor. Der Ausschuss beschloss, eine geordnete Ausproduktion bis zum 31. Mai 2021 einzuleiten. Am 29. Juni 2020 schloss der Beklagte mit dem Betriebsrat der H. einen Interessenausgleich. Dieser sah vor, dass der Betrieb nach dem Ende der Ausproduktion zum 31. Mai 2021 stillgelegt werde und sämtliche Arbeitsverhältnisse gekündigt werden. Auch der Kläger ist in der in dem Interessenausgleich enthaltenen Liste der zu kündigenden Arbeitnehmer namentlich genannt. Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 29. Juni 2020 zum 31. Mai 2021 und – nach vorsorglicher Beteiligung des Integrationsamtes aufgrund eines vom Kläger gestellten Antrags auf Feststellung einer Schwerbehinderung – mit Schreiben vom 20. August 2020 erneut zum 31. Mai 2021. Mit Kaufvertrag vom 22. Februar 2021 veräußerte der Beklagte Teile des Betriebs der H. zum 1. Juli 2021 an deren vormalige Hauptkunden.

Der Kläger hat geltend gemacht, die Kündigungen seien nur auf Vorrat ausgesprochen worden für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen mit möglichen Erwerbern. Eine endgültige Stilllegungsabsicht habe nicht bestanden. Die Produktion sei bis zum 31. Mai 2021 fortgeführt und es sei weiter mit Interessenten über eine Veräußerung des Betriebs verhandelt worden. Der Beklagte hat gemeint, ein betriebsbedingter Kündigungsgrund werde aufgrund des Interessenausgleichs mit Namensliste nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet. Der Kläger habe das Gegenteil zu beweisen. Hierzu reiche sein Vortrag nicht aus. Bei Ausspruch der Kündigung sei er entschlossen gewesen, den gesamten Betrieb endgültig stillzulegen. Die Hauptkunden hätten erst danach, am 31. Juli 2020 Interesse am Erwerb von Teilen des Betriebs bekundet.

Der Kläger hat sich zunächst mit seiner Klage vom 21. Juli 2020 gegen die erste Kündigung vom 29. Juni 2020 gewandt und daneben einen sog. allgemeinen Feststellungsantrag gestellt. Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 13. April 2021 insgesamt abgewiesen. Der Kläger hat gegen die Abweisung des Kündigungsschutzantrags Berufung eingelegt, den allgemeinen Feststellungsantrag hingegen nicht weiterverfolgt. Später im Berufungsverfahren hat er seine Klage ausdrücklich auch auf die Kündigung vom 20. August 2020 erweitert. Das Landesarbeitsgericht hat beiden Kündigungsschutzanträgen stattgegeben. Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner Revision.

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 13. Januar 2023 – 16 Sa 485/21 –