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9 AZR 228/21

Unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung - Auslandsbezug

Court Details

  • File Number

    9 AZR 228/21

  • ECLI Number

    ECLI:DE:BAG:2022:260422.U.9AZR228.21.0

  • Type

    Urteil

  • Date

    26.04.2022

  • Senate

    9. Senat

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Teilurteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg – Kammern Mannheim – vom 9. April 2021 – 12 Sa 15/20 – aufgehoben, soweit es auf die Berufung der Klägerin das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 23. Januar 2020 – 8 Ca 194/19 – abgeändert und der Klage stattgegeben hat.

2. Die Berufung der Klägerin wird insoweit zurückgewiesen.

3. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Leitsatz

1. Ein Verleiher iSv. § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF, der seinen Sitz im Ausland hat, bedarf der Erlaubnis, wenn er Leiharbeitnehmer ins Inland überlässt.

2. Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF bestimmte Rechtsfolge, das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher, setzt voraus, dass der Leiharbeitsvertrag zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer gemäß § 9 Nr. 1 AÜG aF unwirksam ist. Dies gilt auch in Fällen mit Auslandsbezug.

3. Neben einem im Ausland fortbestehenden Arbeitsverhältnis mit dem Verleiher wird kein weiteres Arbeitsverhältnis des Leiharbeitnehmers mit dem Entleiher im Inland begründet, wenn ein Leiharbeitnehmer aus dem Ausland nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF unerlaubt ins Inland überlassen wird. Ein Nebeneinander von Leiharbeitsvertrag und fingiertem Arbeitsverhältnis ist ausgeschlossen.

4. Die Verletzung der Erlaubnispflicht führt nicht zur Unwirksamkeit des Leiharbeitsvertrags nach § 9 Nr. 1 AÜG aF, wenn das Leiharbeitsverhältnis dem Recht eines anderen Mitgliedsstaats der Europäischen Union unterliegt. § 2 Nr. 4 AEntG aF ordnet nicht an, dass § 9 Nr. 1 AÜG aF gegenüber diesem Recht vorrangig gelten soll. Es handelt sich bei dieser Vorschrift auch nicht um eine Eingriffsnorm iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten – soweit für die Revision von Bedeutung – darüber, ob zwischen ihnen seit dem 1. Oktober 2014 aufgrund einer Tätigkeit der Klägerin im Betrieb der Beklagten gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG in der bis 31. März 2017 geltenden Fassung (AÜG aF) kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis besteht, sowie über Vergütung.

2

Die Klägerin ist französische Staatsangehörige und hat ihren Wohnsitz in Frankreich. Sie wurde von der A S.A. (iF A), einer Gesellschaft mit Sitz in Frankreich, zum 1. Oktober 2014 als Fachberaterin/Ingenieurin eingestellt. Der in französischer Sprache abgefasste Arbeitsvertrag vom 12. September 2014 sieht als Arbeitsort Illkirch in Frankreich vor und berechtigt A, die Klägerin vorübergehend anderenorts – auch im Ausland – einzusetzen. Er verweist auf den einschlägigen französischen Manteltarifvertrag, die französischen Sozialversicherungssysteme sowie das französische Datenschutzrecht.

3

Die Beklagte hat ihren Sitz in Karlsruhe. Vom 1. Oktober 2014 bis zum 30. April 2016 wurde die Klägerin von A im Betrieb der Beklagten in Karlsruhe als Technikerin/Beraterin eingesetzt. Nachdem die Klägerin anschließend bei anderen Kunden eingesetzt war, kündigte A das Arbeitsverhältnis zum 12. April 2019. In einem gerichtlichen Verfahren in Frankreich macht die Klägerin den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses geltend.

4

Am 4. April 2019 teilte die Bundesagentur für Arbeit der Klägerin auf Anfrage mit, A sei während ihres Einsatzes bei der Beklagten nicht im Besitz einer Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung nach § 1 AÜG aF gewesen. Die Klägerin berief sich daraufhin mit Schreiben vom 18. April 2019 erstmals gegenüber der Beklagten auf ein gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF begründetes Arbeitsverhältnis, bot ihre Arbeitsleistung an und verlangte von der Beklagten, sie als Sales Coordinator und Sales Manager zu beschäftigen. Am 17. Mai 2019 reichte die Klägerin eine entsprechende Beschäftigungsklage ein, die der Beklagten am 23. Mai 2019 zugestellt worden ist. Im Verlauf des Verfahrens hat die Klägerin klagerweiternd die Zahlung von Differenz-, Überstunden- und Annahmeverzugsvergütung verlangt und mit am 20. Dezember 2019 bei Gericht eingehenden, der Beklagten am 10. Januar 2020 zugestellten Schriftsatz die Feststellung begehrt, dass zwischen den Parteien seit dem 1. Oktober 2014 ein Arbeitsverhältnis besteht. Mit Schreiben vom 22. Januar 2020, das der Klägerin am 23. Januar 2020 zuging, kündigte die Beklagte ein etwaig bestehendes Arbeitsverhältnis vorsorglich außerordentlich fristlos. Das Arbeitsgericht Karlsruhe hat das unter dem Aktenzeichen – 7 Ca 24/20 – geführte Kündigungsschutzverfahren mit Beschluss vom 28. Februar 2020 bis zum rechtskräftigen Abschluss des vorliegenden Verfahrens ausgesetzt.

5

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, zwischen den Parteien sei gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF zum 1. Oktober 2014 ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zustande gekommen. Sie sei der Beklagten zur Arbeitsleistung überlassen worden. Der Arbeitsvertrag mit A sei, obwohl für das Arbeitsverhältnis französisches Recht gelte, in Deutschland infolge der unerlaubten Überlassung nach § 9 Nr. 1 AÜG aF unwirksam. Bei der Bestimmung handele es sich um eine Eingriffsnorm iSv. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 (im Folgenden Rom I-VO), die unabhängig von der von den Arbeitsvertragsparteien getroffenen Rechtswahl gelte. § 9 Nr. 1 AÜG aF schließe nicht aus, dass das Leiharbeitsverhältnis mit A in Frankreich fortbestehe und zusätzlich gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten in Deutschland begründet werde. Die Beklagte sei verpflichtet, an sie für den Zeitraum ihres Einsatzes Differenz- und Überstundenvergütung zu zahlen und für die Folgezeit Vergütung wegen Annahmeverzugs zu zahlen.

6

Die Klägerin hat – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,

        

1.    

festzustellen, dass zwischen den Parteien seit dem 1. Oktober 2014 ein Arbeitsverhältnis besteht; hilfsweise festzustellen, dass zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis besteht;

        

2.    

die Beklagte zu verurteilen, an sie 30.494,48 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27. Juli 2019 zu zahlen;

        

3.    

die Beklagte zu verurteilen, an sie 114.826,50 Euro brutto abzüglich durch A gezahlte 53.362,22 Euro netto nebst Zinsen in gestaffelter Höhe zu zahlen;

        

4.    

die Beklagte zu verurteilen, an sie 24.174,00 Euro brutto abzüglich durch P gezahlte 7.107,72 Euro netto nebst Zinsen in gestaffelter Höhe zu zahlen.

7

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Klägerin sei in ihrem Betrieb nicht als Leiharbeitnehmerin, sondern als Erfüllungsgehilfin von A tätig gewesen. Zudem seien die Voraussetzungen von § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF nicht erfüllt, weil § 9 Nr. 1 AÜG aF auf das französischem Recht unterliegende Arbeitsverhältnis der Klägerin mit A keine Anwendung finde. Es handele sich nicht um eine gegenüber der getroffenen Rechtswahl vorrangig zu beachtende Eingriffsnorm. Das öffentliche Interesse an der Einhaltung von § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF werde gesichert, indem § 16 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AÜG aF die Verletzung der Erlaubnispflicht als Ordnungswidrigkeit ahnde. Die Klägerin sei durch das französische Arbeits- und Sozialrecht wirksam geschützt und verhalte sich widersprüchlich, wenn sie in Frankreich ein Arbeitsverhältnis mit A und in Deutschland ein Arbeitsverhältnis mit ihr geltend mache. Unabhängig davon habe die Klägerin das Recht verwirkt, das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses und ggf. daraus resultierender Ansprüche ihr gegenüber geltend zu machen. Die Zahlungsansprüche seien verfallen, und – soweit vor dem 1. Januar 2016 entstanden – verjährt.

8

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht in einem Teilurteil festgestellt, dass zwischen den Parteien am 1. Oktober 2014 ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen sei, dass zumindest bis zum 23. Januar 2020 fortbestanden habe. Den Zahlungsanträgen hat das Landesarbeitsgericht teilweise stattgegeben und insoweit die Berufung der Klägerin im Übrigen zurückgewiesen. Über den weitergehenden Feststellungsantrag und den Beschäftigungsantrag der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht bisher nicht entschieden. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage, soweit in der Revisionsinstanz darüber zu befinden ist, zu Recht abgewiesen. Das Teilurteil des Landesarbeitsgerichts war daher, soweit das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben hat, aufzuheben und die Berufung der Klägerin im Umfang der Aufhebung zurückzuweisen.

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A. Der Feststellungsantrag ist zulässig.

11

I. Die deutschen Gerichte sind international zuständig.

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1. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist als eine von Amts wegen zu beachtende Sachurteilsvoraussetzung auch in der Revisionsinstanz zu prüfen (vgl. BAG 25. Februar 2021 – 8 AZR 171/19 – Rn. 43; 17. Juni 2020 – 10 AZR 464/18 – Rn. 22). Sie bestimmt sich für das vorliegende, am 17. Mai 2019 anhängig gemachte Verfahren nach der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 (im Folgenden Brüssel-Ia-VO), die nach ihrem Art. 66 Abs. 1 für die seit dem 10. Januar 2015 eingeleiteten Verfahren gilt (zum Vorrang der Brüssel-Ia-VO gegenüber den Regelungen der §§ 12 ff. ZPO vgl. BAG 25. Juni 2013 – 3 AZR 138/11 – Rn. 13 zur Verordnung (EG) Nr. 44/2001 (EuGVVO)). Bei einem Arbeitsrechtsstreit handelt es sich um eine zivilrechtliche Streitigkeit iSv. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Brüssel-Ia-VO. Der für die Anwendung der Brüssel-Ia-VO erforderliche Auslandsbezug (vgl. EuGH 17. November 2011 – C-327/10 – [Hypoteční banka] Rn. 29; BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 21 jeweils zur EuGVVO) ergibt sich daraus, dass die Klägerin ihren Wohnsitz in Frankreich hat (BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 16 f.).

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2. Es bedarf im Streitfall keiner Entscheidung, ob der Anwendungsbereich von Art. 20 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Buchst. a Brüssel-Ia-VO eröffnet ist, wenn sich Leiharbeitnehmer eines nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF begründeten Arbeitsverhältnisses berühmen und daraus resultierende Ansprüche geltend machen. Ebenso wenig bedarf es einer Erörterung, ob auf Art. 20 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Buchst. a Brüssel-Ia-VO abzustellen ist, weil das Unionsrecht in Fällen der Arbeitnehmerüberlassung von einem „doppelten Arbeitsverhältnis“ zwischen einerseits dem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer und andererseits dem Leiharbeitnehmer und dem entleihenden Unternehmen ausgeht (vgl. EuGH 11. April 2013 – C-290/12 – [Della Rocca] Rn. 37, 40). Zwar schließt Art. 20 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO einen Rückgriff auf die allgemeine Norm des Art. 4 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO aus (vgl. EuArbRK/Krebber 4. Aufl. VO (EU) 1215/2012 Art. 20 Rn. 1). Die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit kann vorliegend jedoch im Rahmen der Wahlfeststellung vorgenommen werden (vgl. zur Rechtswegzuständigkeit BAG 21. Dezember 2010 – 10 AZB 14/10 – Rn. 7; 30. August 2000 – 5 AZB 12/00 – zu II 2 b der Gründe), denn die Beklagte könnte, wenn der Anwendungsbereich von Art. 20 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Buchst. a Brüssel-Ia-VO nicht eröffnet wäre, nach Art. 4 Abs. 1 iVm. Art. 63 Abs. 1 Buchst. a Brüssel-Ia-VO in Deutschland verklagt werden, weil sie ihren Sitz in Karlsruhe hat.

14

II. Die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO sind erfüllt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann ein Arbeitnehmer mit der allgemeinen Feststellungsklage das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zu einem Entleiher auf Grundlage der Vorschriften des AÜG geltend machen (vgl. BAG 20. März 2018 – 9 AZR 508/17 – Rn. 17; 20. September 2016 – 9 AZR 735/15 – Rn. 22). Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche besondere Feststellungsinteresse besteht auch, soweit der Feststellungsantrag auf die Vergangenheit gerichtet ist, denn die Klägerin leitet aus der begehrten Feststellung – wie die Zahlungsanträge belegen – gegenwärtige Rechtsfolgen ab (vgl. BAG 25. August 2020 – 9 AZR 373/19 – Rn. 14; 20. März 2018 – 9 AZR 508/17 – Rn. 18).

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III. In der gebotenen rechtsschutzgewährenden Auslegung ist der Feststellungsantrag hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Zwar benennt die Klägerin im Klageantrag weder die Art der von ihr geschuldeten Arbeitsleistung noch weitere Arbeitsbedingungen. Diese ergeben sich jedoch aus der Klagebegründung, die zur Ermittlung des Inhalts auslegungsbedürftiger Klageanträge herangezogen werden kann (vgl. BAG 15. Juni 2021 – 9 AZR 217/20 – Rn. 24; 15. Juli 2020 – 10 AZR 507/18 – Rn. 26). Die Klägerin begehrt danach die gerichtliche Feststellung eines Arbeitsverhältnisses als Sales Coordinator und Sales Manager, das seit dem 1. Oktober 2014 mit einer wöchentlichen Regelarbeitszeit von 35 Stunden zu den bei der Beklagten hierfür üblichen Bedingungen besteht (zu Art und Beginn der Arbeitsleistung als den essentialia negotii des Arbeitsvertrags vgl. BAG 27. April 2021 – 9 AZR 343/20 – Rn. 41).

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IV. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Klägerin das Recht, den Bestand eines Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten klageweise geltend zu machen, nicht nach den für die Prozessverwirkung geltenden Grundsätzen verwirkt hat.

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1. Das Recht, eine Klage zu erheben, kann mit der Folge verwirkt werden, dass eine dennoch angebrachte Klage unzulässig ist. Dies kommt jedoch nur unter besonderen Voraussetzungen in Betracht. Das Klagerecht kann ausnahmsweise verwirkt sein, wenn der Anspruchsteller die Klage erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums erhebt und zusätzlich ein Vertrauenstatbestand beim Anspruchsgegner geschaffen worden ist, er werde gerichtlich nicht mehr belangt werden. Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauensschutzes das Interesse des Berechtigten an der sachlichen Prüfung des von ihm behaupteten Anspruchs derart überwiegen, dass dem Gegner die Einlassung auf die nicht innerhalb angemessener Frist erhobene Klage nicht mehr zumutbar ist. Durch die Annahme einer prozessualen Verwirkung darf der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dies ist im Zusammenhang mit den an das Zeit- und Umstandsmoment zu stellenden Anforderungen zu berücksichtigen (BAG 13. Oktober 2020 – 3 AZR 246/20 – Rn. 22; 25. August 2020 – 9 AZR 373/19 – Rn. 16).

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2. Die Voraussetzungen der Prozessverwirkung liegen im Streitfall nicht vor. Es kann dahinstehen, ob der Umstand, dass sich die Klägerin mehr als vier Jahre nach Aufnahme ihrer Tätigkeit im Oktober 2014 bzw. drei Jahre nach Ende ihres Einsatzes am 30. April 2016 erstmals darauf berufen hat, die Parteien verbinde ein Arbeitsverhältnis, die Annahme des Zeitmoments rechtfertigt. Jedenfalls fehlt es an dem für die Prozessverwirkung erforderlichen Umstandsmoment. Die Beklagte hat keine besonderen Umstände vorgetragen, aufgrund deren es ihr aus Vertrauensgesichtspunkten nicht zugemutet werden könnte, sich im Rahmen eines Rechtsstreits auf das Klagebegehren einzulassen und sich hiergegen zu verteidigen. Sie hat insbesondere nicht geltend gemacht, sie habe aufgrund eines bei ihr entstandenen Vertrauens, die Klägerin werde keine Klage erheben, Beweismittel nicht gesichert oder sie habe sonstige Schwierigkeiten bei der Verteidigung ihrer Rechtsposition im Prozess, die ihr bei früherer Klageerhebung nicht entstanden wären (vgl. BAG 25. August 2020 – 9 AZR 373/19 – Rn. 17; 20. März 2018 – 9 AZR 508/17 – Rn. 21).

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B. Der Feststellungsantrag ist nicht begründet. Zwischen den Parteien bestand entgegen der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts im Zeitraum vom 1. Oktober 2014 bis zum 23. Januar 2020 kein nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF kraft Gesetzes begründetes Arbeitsverhältnis. Dies gilt selbst für den Fall, dass die Klägerin der Beklagten als Leiharbeitnehmerin überlassen worden sein sollte.

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I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Feststellungsantrag der Klägerin sei begründet, weil zwischen den Parteien mit Beginn des Einsatzes der Klägerin am 1. Oktober 2014 entsprechend § 10 Abs. 1 AÜG aF ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu Stande gekommen sei, das zumindest bis zum Zugang der außerordentlichen Kündigung der Beklagten am 23. Januar 2020 fortbestanden habe. Soweit sich die Rechtsbeziehungen der Parteien nicht aus ihren Vertragsbeziehungen zu A herleiten ließen, gelte gemäß Art. 8 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 (Rom I-VO) deutsches Recht, weil die Klägerin für die Beklagte in Deutschland gearbeitet habe. A habe die Klägerin der Beklagten ohne die gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF erforderliche Erlaubnis als Arbeitskraft überlassen. Dies habe gemäß § 9 Abs. 1 AÜG aF die Unwirksamkeit des Arbeitsvertrags mit A zur Folge. Die Bestimmung finde auf das Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und A als Eingriffsnorm Anwendung, obwohl dieses Rechtsverhältnis kraft Rechtswahl nach Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO französischem Recht unterliege. § 9 Nr. 1 AÜG aF gelte zwar nicht über das deutsche Staatsgebiet hinaus und lasse die Wirksamkeit des Arbeitsvertrags zwischen A und der Klägerin in Frankreich unberührt. § 10 Abs. 1 AÜG aF sei aber in Fällen mit Auslandsbezug auch dann anzuwenden, wenn die Unwirksamkeitsfolge des § 9 Nr. 1 AÜG aF aufgrund des Territorialitätsprinzips eingeschränkt sei.

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II. Diese Begründung hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die tatbestandlichen Voraussetzungen, an die § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses knüpft, liegen im Streitfall nicht vor. Das in Frankreich begründete Arbeitsverhältnis der Klägerin mit A ist nicht gemäß § 9 Nr. 1 AÜG aF unwirksam. Das Landesarbeitsgericht ist zwar – eine Arbeitnehmerüberlassung zugunsten der Klägerin unterstellt – im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass auch Verleiher mit Sitz im Ausland bei Überlassungen ins Inland einer Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF bedürfen (vgl. BT-Drs. VI/2303 S. 10; Deinert ZESAR 2016, 107, 112; ErfK/Wank/Roloff 22. Aufl. AÜG § 1 Rn. 8). Dies folgt aus dem Territorialitätsprinzip (vgl. BT-Drs. VI/2303 S. 10) sowie den Bestimmungen des § 1 Abs. 3 Nr. 3 und § 3 Abs. 4 AÜG aF. § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF sieht jedoch entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts – auch in Fällen der unerlaubten Überlassung von Arbeitnehmern aus dem Ausland – ein Nebeneinander von fortbestehendem Leiharbeitsvertrag und fingiertem Arbeitsverhältnis nicht vor. Die hiervon abweichende Entscheidung des Landesarbeitsgerichts beruht auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung von § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF und § 9 Nr. 1 AÜG aF (zu den Auslegungsgrundsätzen vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 74, BVerfGE 149, 126; BAG 21. Dezember 2016 – 5 AZR 374/16 – Rn. 20, BAGE 157, 356).

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1. Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer zu dem zwischen dem Entleiher und dem Verleiher für den Beginn der Tätigkeit vorgesehenen Zeitpunkt als zustande gekommen, wenn der Vertrag zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer nach § 9 Nr. 1 AÜG aF unwirksam ist. Die Begründung eines Arbeitsverhältnisses zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher kraft Gesetzes setzt danach voraus, dass der zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer geschlossene Leiharbeitsvertrag infolge einer iSv. § 1 AÜG aF unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung nach § 9 Nr. 1 AÜG aF unwirksam ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, ordnet das Gesetz an, dass das gesetzlich begründete Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer an die Stelle des unwirksamen Vertragsverhältnisses zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer tritt und dieses ersetzt.

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2. Gegen die vom Landesarbeitsgericht wie in Teilen der Rechtsprechung und des Schrifttums vertretene Auslegung, es werde neben dem im Ausland fortbestehenden Arbeitsverhältnis mit dem Verleiher – beschränkt auf das Inland – ein Arbeitsverhältnis des Leiharbeitnehmers mit dem Entleiher begründet (vgl. zu diesem Ansatz: Hessisches LAG 7. Dezember 2011 – 18 Sa 928/11 – Rn. 35 f., 40; Schüren/Hamann/Brors AÜG 6. Aufl. Einl. Rn. 663 f.; Boemke/Lembke/Boemke AÜG 3. Aufl. Einleitung Rn. 22; Ulber ZESAR 2015, 3, 6; ähnlich auch Deinert ZESAR 2016, 107, 115; Deinert Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer in Inlandsbetrieben S. 63 f.; in Abgrenzung zu diesem Ansatz: vgl. Bayreuther in NZA 2019, 1256, 1257), spricht bereits der Wortlaut von § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF. Die Bestimmung stellt ausdrücklich darauf ab, dass „der Vertrag zwischen … Verleiher und … Leiharbeitnehmer nach § 9 Nr. 1 unwirksam“ ist. Sie ordnet nur in diesem Fall an, dass „ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer … als zustande gekommen“ gilt. Eine territoriale Beschränkung seiner Voraussetzungen und der Rechtsfolgen sieht § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF nicht vor. Der Wortlaut von § 9 Nr. 1 AÜG aF bestätigt dieses Verständnis. Nach § 9 Nr. 1 AÜG aF sind die „Verträge zwischen Verleihern und Entleihern sowie zwischen Verleihern und Leiharbeitnehmern“ unwirksam, wenn der Verleiher nicht über die nach § 1 AÜG aF erforderliche Erlaubnis verfügt. Für eine Einschränkung dieser Rechtsfolge im Sinne einer territorial begrenzten Unwirksamkeit des Arbeitsvertrags zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer ergeben sich weder aus § 9 Nr. 1 AÜG aF noch aus den Bestimmungen des AÜG aF im Übrigen Anhaltspunkte.

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3. Auch die Systematik des AÜG aF sowie Sinn und Zweck von § 9 Nr. 1 und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF sprechen gegen die vom Landesarbeitsgericht vertretene Auslegung.

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a) Das Regelungsgefüge von § 1 Abs. 1 Satz 1, § 9 Nr. 1 und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF differenziert – wie das AÜG aF insgesamt (vgl. BAG 25. März 2015 – 5 AZR 368/13 – Rn. 35, BAGE 151, 170; zum Unionsrecht vgl. EuGH 11. April 2013 – C-290/12 – [Della Rocca] Rn. 37, 40) – zwischen den verschiedenen Vertragsverhältnissen der bei der Arbeitnehmerüberlassung beteiligten Personen. Es zielt auf einen gerechten Interessenausgleich zwischen den Beteiligten (BAG 20. Januar 2016 – 7 AZR 535/13 – Rn. 48). Die in § 1 AÜG aF normierte Erlaubnispflicht für die Arbeitnehmerüberlassung dient dazu sicherzustellen, dass Arbeitnehmerüberlassung nur von zuverlässigen Verleihern betrieben wird, die den sozialen Schutz der Leiharbeitnehmer gewährleisten (BT-Drs. VI/2303 S. 9). Die privatrechtliche Sanktion der Unwirksamkeit des Vertrags zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer gemäß § 9 Nr. 1 AÜG aF soll die Verleiher zu einem gesetzmäßigen Verhalten veranlassen (BT-Drs. VI/2303 S. 13). Die Begründung eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF dient dem Schutz des Leiharbeitnehmers, dessen Arbeitsvertrag mit dem Verleiher nach § 9 Nr. 1 AÜG aF unwirksam ist (BT-Drs. VI/2303 S. 13 f.).

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b) § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF regelt die privatrechtlichen Rechtsfolgen einer iSv. § 1 AÜG aF unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung für das Rechtsverhältnis zwischen dem Entleiher und dem Leiharbeitnehmer. Das gesetzlich angeordnete Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher kompensiert den Verlust, den der Leiharbeitnehmer andernfalls infolge der Regelung in § 9 Nr. 1 AÜG aF erlitte. Ohne die Regelung in § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF arbeitete der Leiharbeitnehmer, der von seinem Vertragsarbeitgeber entgegen § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF ohne Erlaubnis einem Dritten überlassen wird, ohne arbeitsvertragliche Grundlage. Seine Ansprüche, die sich allein gegen den Verleiher richteten, wären nach den Grundsätzen über das faktische Arbeitsverhältnis und der Schadensersatzbestimmung des § 10 Abs. 2 AÜG aF zu ermitteln (vgl. BAG 17. Januar 2017 – 9 AZR 76/16 – Rn. 28, BAGE 158, 6; 20. September 2016 – 9 AZR 735/15 – Rn. 54).

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4. Für eine Auslegung, der zufolge das Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher an die Stelle des nach § 9 Nr. 1 AÜG aF unwirksamen Leiharbeitsvertrags tritt und diesen ersetzt, sprechen auch die Gesetzesmaterialien, denen für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zugrunde liegt, neben Wortlaut und Systematik eine nicht unerhebliche Indizwirkung zukommt (vgl. hierzu im Einzelnen BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 74, BVerfGE 149, 126). Nach der Begründung des – insoweit unverändert verabschiedeten – Gesetzentwurfs der Bundesregierung „fingiert“ § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF „im Fall der Nichtigkeit nach § 9 Nr. 1 das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher“ und „der Entleiher wird … der alleinige Arbeitgeber des Leiharbeitnehmers“ (vgl. BT-Drs. VI/2303 S. 13 f.).

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5. Ein Verständnis im Sinne eines gesetzlich angeordneten Arbeitgeberwechsels, der ein Nebeneinander von Leiharbeitsvertrag und fingiertem Arbeitsverhältnis ausschließt, liegt auch der am 1. April 2017 in Kraft getretenen Neufassung von §§ 9,10 AÜG vom 21. Februar 2017 zugrunde. § 9 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 AÜG nF schränkt die – wie nach § 9 Nr. 1, § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF – eintretenden Rechtsfolgen einer Arbeitnehmerüberlassung ohne erforderliche Verleiherlaubnis ein, indem dem Leiharbeitnehmer ermöglicht wird, durch eine gegenüber dem Verleiher oder dem Entleiher abzugebende Erklärung an dem Arbeitsvertrag mit dem Verleiher festzuhalten. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, der insoweit unverändert verabschiedet wurde, soll die Neuregelung „nicht zuletzt aus verfassungsrechtlichen Gründen“ Leiharbeitnehmern zum Schutz von „deren Berufsfreiheit nach Artikel 12 des GG“ ein Festhalten am Arbeitsverhältnis mit dem Verleiher ermöglichen, wenn – abweichend vom Regelfall – die Unwirksamkeit des Leiharbeitsvertrags und die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher nicht in ihrem Interesse liegt (vgl. BT-Drs. 18/9232 S. 25).

29

III. Einer Zurückverweisung bedarf es wegen des Rechtsfehlers des Landesarbeitsgerichts nicht. Der Senat kann in der Sache selbst abschließend entscheiden, weil die für eine Endentscheidung erforderlichen Feststellungen getroffen sind (§ 563 Abs. 3 ZPO). Der Feststellungsantrag unterliegt danach der Abweisung. Dabei kann zugunsten der Klägerin unterstellt werden, sie sei der Beklagten als Leiharbeitnehmerin überlassen worden. Wird ein Leiharbeitnehmer aus dem Ausland unerlaubt iSv. § 1 AÜG aF ins Inland überlassen, führt die Verletzung der Erlaubnispflicht nicht zur Unwirksamkeit des Leiharbeitsvertrags nach § 9 Nr. 1 AÜG aF, wenn das Leiharbeitsverhältnis – wie im Streitfall – dem Recht eines anderen Mitgliedsstaats der Europäischen Union unterliegt. Die Voraussetzungen eines Arbeitgeberwechsels nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF sind in diesem Fall nicht erfüllt, weil § 9 Nr. 1 AÜG aF auf das Arbeitsverhältnis zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer keine Anwendung findet. Die Anwendung dieser Vorschrift bestimmt sich einheitlich nach dem Statut des Arbeitsvertrags zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Verleiher.

30

1. Das Vertragsverhältnis zwischen der Klägerin und A unterlag im Zeitraum ihres Einsatzes bei der Beklagten gemäß Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Rom I-VO aufgrund konkludenter Rechtswahl französischem Recht.

31

a) Die Rom I-VO findet Anwendung. Der Arbeitsvertrag wurde am 12. September 2014 und damit nach dem 17. Dezember 2009 geschlossen (Art. 28 Rom I-VO). Eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten besteht, weil die Arbeitsvertragsparteien ihren Sitz bzw. Wohnsitz in Frankreich haben und die Klägerin von A in Deutschland eingesetzt wurde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Rom I-VO).

32

b) Nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Rom I-VO gilt der Grundsatz der freien Rechtswahl. Die Wahl kann ausdrücklich oder konkludent getroffen werden (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO). Die Klägerin und A haben im Arbeitsvertrag vom 12. September 2014 das anzuwendende Recht nicht ausdrücklich iSv. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 Rom I-VO gewählt. Sie haben aber, wie vom Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen, konkludent iSv. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 Rom I-VO die Geltung des französischen Rechts vereinbart.

33

aa) Eine konkludente Rechtswahl setzt voraus, dass sie sich eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrags oder den Umständen des Falls ergibt (vgl. BAG 15. Dezember 2016 – 6 AZR 430/15 – Rn. 40; 23. März 2016 – 5 AZR 767/14 – Rn. 22, BAGE 154, 348). Werden in dem Vertrag Rechtsvorschriften eines bestimmten Staats in Bezug genommen oder zitiert, spricht dies für eine konkludente Rechtswahl (st. Rspr. vgl. nur BAG 26. April 2017 – 5 AZR 962/13 – Rn. 26, BAGE 159, 69; 15. Dezember 2016 – 6 AZR 430/15 – Rn. 45). In dem Prozessverhalten der Parteien kann eine konkludente Rechtswahl liegen, wenn sie sich ausschließlich auf Rechtsvorschriften eines bestimmten Staats beziehen (BAG 24. Juni 2020 – 5 AZR 55/19 (A) – Rn. 79, BAGE 171, 132; 12. Dezember 2017 – 3 AZR 305/16 – Rn. 29, BAGE 161, 142). Die Vertragssprache und der Ort des Vertragsschlusses können lediglich unterstützend herangezogen werden (BAG 15. Dezember 2016 – 6 AZR 430/15 – Rn. 43 f.; 23. März 2016 – 5 AZR 767/14 – Rn. 25 f., BAGE 154, 348).

34

bb) Unter Beachtung dieser Kriterien ist die Auslegung des Arbeitsvertrags durch das Landesarbeitsgericht – der die Parteien nicht entgegengetreten sind – revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Entscheidend für eine eindeutige konkludente Wahl französischen Rechts spricht in der Gesamtschau der Umstände, dass der Arbeitsvertrag auf die Bestimmungen eines französischen Manteltarifvertrags sowie die französischen Sozialversicherungssysteme und auf das französische Datenschutzrecht verweist und keine Bezüge zum Recht eines anderen Staats aufweist.

35

c) Die Rechtswahl ist wirksam. Sie konnte nicht dazu führen, dass der Klägerin der Schutz entzogen würde, der ihr durch die zwingenden Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre. Das Arbeitsverhältnis unterlag auch objektiv französischem Vertragsstatut.

36

aa) Nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO darf die Rechtswahl bei Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch die zwingenden Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das nach Art. 8 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 4 Rom I-VO mangels Rechtswahl anzuwenden wäre. Deshalb ist ein Günstigkeitsvergleich anzustellen zwischen den zwingenden Bestimmungen des objektiv anwendbaren Rechts, die dem Arbeitnehmer Schutz gewähren, und denen der gewählten Rechtsordnung (vgl. BAG 15. Dezember 2016 – 6 AZR 430/15 – Rn. 51; zu Art. 30 EGBGB: BAG 19. März 2014 – 5 AZR 252/12 (B) – Rn. 23, BAGE 147, 342; 13. November 2007 – 9 AZR 134/07 – Rn. 35, BAGE 125, 24).

37

(1) Das nationale Gericht hat das anwendbare Recht zunächst auf der Grundlage der in Art. 8 Abs. 2, Abs. 3 Rom I-VO genannten spezifischen Anknüpfungskriterien zu bestimmen. Ergeben die Gesamtumstände, dass der Arbeitsvertrag engere Verbindungen zu einem anderen Land aufweist, obliegt es nach Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO dem nationalen Gericht, die in Art. 8 Abs. 2, Abs. 3 Rom I-VO genannten Anknüpfungskriterien auszuschließen und das Recht dieses anderen Landes anzuwenden (vgl. zu Art. 6 Abs. 2 EVÜ EuGH 12. September 2013 – C-64/12 – [Schlecker] Rn. 35 und 40 unter Hinweis in Rn. 38 auf Art. 8 Rom I-VO).

38

(2) Auf Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse ist bei unterbliebener Rechtswahl nach Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO objektiv das Recht des Staats anwendbar, in dem der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, selbst wenn er vorübergehend in einen anderen Staat entsandt wird. Übt der Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehreren Vertragsstaaten aus, ist gewöhnlicher Arbeitsort der Ort, an dem oder von dem aus er seine berufliche Tätigkeit tatsächlich ausübt, und, in Ermangelung eines Mittelpunkts der Tätigkeit, der Ort, an dem er den größten Teil seiner Arbeit verrichtet. Erst wenn auch dann ein gewöhnlicher Arbeitsort in einem Staat nicht feststellbar ist, darf auf die „einstellende Niederlassung“ iSv. Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO zurückgegriffen werden (vgl. EuGH 15. Dezember 2011 – C-384/10 – [Voogsgeerd] Rn. 26 ff.; 15. März 2011 – C-29/10 – [Koelzsch] Rn. 43 ff.; BAG 15. Dezember 2016 – 6 AZR 430/15 – Rn. 57; zu Art. 30 Abs. 2 EGBGB aF vgl. BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 24 ff.; 19. März 2014 – 5 AZR 252/12 (B) – Rn. 25, BAGE 147, 342).

39

(3) Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO sieht vor, dass diese Anknüpfungskriterien nicht anwendbar sind, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Arbeitsvertrag oder das Arbeitsverhältnis engere Verbindungen zu einem anderen Staat aufweist; in diesem Fall ist das Recht dieses anderen Staats anzuwenden (vgl. zu Art. 6 Abs. 2 EVÜ EuGH 12. September 2013 – C-64/12 – [Schlecker] Rn. 24 ff. unter Hinweis in Rn. 38 auf Art. 8 Rom I-VO). Für die „Gesamtheit der Umstände“ ist nicht allein die Anzahl der für eine Verbindung zu dem einen oder dem anderen Staat sprechenden Kriterien maßgebend. Vielmehr müssen die Anknüpfungsmomente gewichtet werden (zu Art. 30 Abs. 2 Halbs. 2 EGBGB aF: BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 30; 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 87, BAGE 158, 266). Zu berücksichtigen sind ua. der Arbeitsort, der Sitz des Arbeitgebers, die Staatsangehörigkeit der Vertragsparteien und der Wohnsitz des Arbeitnehmers. Vertragsimmanente Gesichtspunkte wie die Vertragssprache, die Währung, in der die Vergütung gezahlt wird, oder die Bezugnahme auf Rechtsvorschriften eines bestimmten Staats haben nachrangige Bedeutung. Andernfalls hätte es der Arbeitgeber in der Hand, das vom Gesetzgeber vorgesehene Günstigkeitsprinzip durch die Vertragsgestaltung und entsprechende Abreden zu unterlaufen. Eine derartige Disposition über den zwingenden Arbeitnehmerschutz soll Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO gerade verhindern. In seinem Rahmen kommt es auf davon unabhängige, objektive Umstände an (zu Art. 30 Abs. 2 Halbs. 2 EGBGB aF: BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 31; 18. September 2019 – 5 AZR 81/19 – Rn. 30, BAGE 168, 38; 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 87, BAGE 158, 266). Ein wesentliches Kriterium ist dabei der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine Steuern und Abgaben entrichtet und der Sozialversicherung angeschlossen ist (vgl. zu Art. 6 Abs. 2 EVÜ EuGH 12. September 2013 – C-64/12 – [Schlecker] Rn. 41; zu Art. 30 Abs. 2 Halbs. 2 EGBGB aF: BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 31; 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 87, aaO). Sollen die Einzelumstände auf engere Verbindungen zu einem anderen Staat verweisen, müssen sie insgesamt das Gewicht der einschlägigen Regelanknüpfung deutlich übersteigen (zu Art. 30 Abs. 2 Halbs. 2 EGBGB aF: BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 31; 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 87, aaO).

40

(4) Die Bewertung obliegt in erster Linie den Tatsacheninstanzen, die bei der Gewichtung der Anknüpfungsmomente über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügen. Das Landesarbeitsgericht muss alle Gesichtspunkte berücksichtigen, die das Arbeitsverhältnis kennzeichnen und den- bzw. diejenigen würdigen, die seiner Auffassung nach „am maßgeblichsten“ sind (vgl. zu Art. 30 Abs. 2 Halbs. 2 EGBGB aF: BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 32; 18. September 2019 – 5 AZR 81/19 – Rn. 31, BAGE 168, 38; 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 86, BAGE 158, 266). Fehlt es an einer solchen Würdigung, ist dem Revisionsgericht eine eigene Rechtsanwendung möglich, wenn alle relevanten Tatsachen festgestellt sind (zu unbestimmten Rechtsbegriffen vgl. BAG 2. Februar 2022 – 7 AZR 573/20 – Rn. 59; 15. Juni 2021 – 9 AZR 217/20 – Rn. 52 f. mwN).

41

bb) Das Landesarbeitsgericht hat zwar nicht geprüft, ob der getroffenen Rechtswahl Art. 8 Abs. 1 Satz 2 und Art. 8 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 4 Rom I-VO entgegenstehen. Dem Senat ist aber eine eigene Prüfung und Bewertung möglich, weil die für eine Endentscheidung erforderlichen Feststellungen getroffen sind (§ 559 Abs. 1 ZPO) und weiterer Sachvortrag der Parteien nicht zu erwarten ist. Ausgehend von diesen Feststellungen wäre französisches Recht auch ohne Rechtswahl nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit A anzuwenden. Es weist keine engere Verbindung zu einem anderen Staat iSv. Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO auf.

42

(1) In dem zwischen der Klägerin und A geschlossenen Arbeitsvertrag ist Illkirch in Frankreich als Arbeitsort bestimmt. Die Klägerin hat ihre berufliche Tätigkeit von dort aus ausgeübt. Von Illkirch aus hat A die Art und Weise ihres Einsatzes – unabhängig davon, wie dieser rechtlich zu qualifizieren ist – gesteuert sowie den Einsatzort festgelegt. Die Zuweisung eines Einsatzes im Ausland, wie im Betrieb der Beklagten in Karlsruhe, ließ der Arbeitsvertrag nur vorübergehend zu. Eine dauerhafte Versetzung war dagegen nur innerhalb Frankreichs zulässig.

43

(2) Der Vertrag zwischen der Klägerin und A weist danach keine von der Regelanknüpfung des Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO abweichende engere Verbindung zu Deutschland auf. Bis auf den vorübergehenden Einsatz in Deutschland sprechen sämtliche Umstände für eine engere Verbindung zu Frankreich, weil die Vertragsparteien in diesem Staat ihren Sitz bzw. Wohnsitz haben, die Klägerin in Frankreich Steuern zu entrichten hat und dort sozialversichert ist. Aus Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Rom I-VO und dem Erwägungsgrund 36 der Verordnung ergibt sich, dass der nur vorübergehende Einsatz in einem anderen Staat bei der Bestimmung des Vertragsstatuts keine maßgebliche Rolle spielt.

44

2. § 9 Nr. 1 AÜG aF findet auf das Vertragsverhältnis der Klägerin zu A auch nicht unabhängig von dem nach Art. 8 Rom I-VO zu bestimmenden Arbeitsvertragsstatut aufgrund vorrangig zu beachtender allgemeiner oder spezieller Kollisionsnormen Anwendung. Unterliegt das Leiharbeitsverhältnis dem Recht eines anderen Mitgliedsstaats der Europäischen Union, ordnen weder § 2 Nr. 4 AEntG in der vom 24. April 2009 bis 29. Juli 2020 gültigen Fassung vom 20. April 2009 (AEntG aF) noch das AÜG an, dass § 9 Nr. 1 AÜG aF gegenüber diesem Recht vorrangig gelten soll.

45

a) Ausgehend von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden EuGH oder Gerichtshof) ist nach dem Grundsatz der Spezialität vorrangig vor der Frage, ob § 9 Nr. 1 AÜG aF als Eingriffsnorm iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO auf das fremdem Recht unterliegende Vertragsverhältnis zwischen Leiharbeitnehmer und Verleiher anzuwenden ist, zu prüfen, ob sich der Anwendungsbereich von § 2 Nr. 4 AEntG aF auf § 9 Nr. 1 AÜG aF erstreckt. Mit § 2 AEntG aF hat der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen in der vom 10. Februar 1997 bis 28. Juli 2018 geltenden Fassung (Richtlinie 96/71/EG aF) umgesetzt (vgl. BT-Drs. 16/10486 S. 11). Nach Art. 23 Rom I-VO berührt die Rom I-VO mit Ausnahme ihres Art. 7 nicht die Anwendung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die in besonderen Bereichen Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten. Nach dem Erwägungsgrund 40 der Rom I-VO sollten die Aufteilung der Kollisionsnormen auf zahlreiche Rechtsakte sowie Unterschiede zwischen diesen Normen vermieden werden. Die Rom I-VO sollte jedoch die Möglichkeit nicht ausschließen, Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse in Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über besondere Gegenstände aufzunehmen. Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 96/71/EG aF ist eine speziellere Kollisionsnorm iSv. Art. 23 der Rom I-VO und hat deshalb Vorrang vor den Regelungen der Rom I-VO (vgl. zu Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF und nF im Einzelnen: EuGH 8. Dezember 2020 – C-620/18 – [Ungarn/Parlament und Rat] Rn. 179 f.; 8. Dezember 2020 – C-626/18 – [Polen/Parlament und Rat] Rn. 133 f.; vgl. zu Art. 9 Rom I-VO einschränkend EuArbRK/Krebber 4. Aufl. VO (EG) 593/2008 Art. 23 Rn. 1).

46

b) Soweit § 2 Nr. 4 AEntG aF – in Umsetzung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 96/71/EG aF (vgl. BT-Drs. 16/10486 S. 11) – bestimmt, dass „die in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften enthaltenen Regelungen über die Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen“, zwischen einem im Ausland ansässigen Arbeitgeber und seinen im Inland beschäftigten Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zwingend anzuwenden sind, bezieht sich dies auf Rechts- und Verwaltungsvorschriften des nationalen Rechts, die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern regeln, sowie auf die im Inland geltenden gewerbe-, vermittlungs- und erlaubnisrechtlichen Voraussetzungen der Arbeitnehmerüberlassung. § 2 Nr. 4 AEntG aF ordnet nicht die Geltung von Bestimmungen an, die – wie § 9 Nr. 1 und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF – den Bestand des Leiharbeitsverhältnisses betreffen (im Ergebnis ebenso Thüsing/Thüsing AÜG 4. Aufl. Einf. Rn. 62 aE; Ulrici AÜG § 9 Rn. 13; Hennecke ZESAR 2017, 117, 122; Tuengerthal/Andorfer EWS 2016, 328, 334 f.; Zimmermann Folgen illegaler grenzüberschreitender Arbeitnehmerüberlassung aus Sicht des Entleihers S. 19 ff., 63 f.; aA: BAG 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 68, BAGE 158, 266; Boemke in Boemke/Lembke AÜG 3. Aufl. Einl. Rn. 22; Brors in Schüren/Hamann AÜG 6. Aufl. Einl. 662; Deinert Internationales Arbeitsrecht § 10 Rn. 105; Deinert ZESAR 2016, 107, 114; Hamann Fremdpersonal im Unternehmen 5. Aufl. S. 239 f.; ders. jurisPR-ArbR 43/2021 Anm. 2 zu C III; Mankowski RdA 2018, 181, 186; Müller International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts S. 392 f. zu Art. 34 EGBGB aF; Ulber-J. Ulber AÜG 5. Aufl. Einleitung F Rn. 97; Ulber AEntG § 2 Rn. 34; Wilde NZS 2016, 48, 50; Wilde Arbeitnehmerüberlassung im Binnenmarkt S. 138; Wypych Grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung aus Polen nach Deutschland S. 122, 142 f.).

47

aa) Der Anwendungsbereich von § 2 Nr. 4 AEntG aF ist durch Auslegung zu ermitteln. Maßgebend für die Gesetzesauslegung ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Regelung hineingestellt ist. Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte. Unter diesen Methoden hat keine unbedingten Vorrang. Welche Regelungskonzeption der Gesetzgeber mit dem von ihm gefundenen Wortlaut tatsächlich verfolgt, ergibt sich uU erst aus den anderen Auslegungsgesichtspunkten. Wird daraus der Wille des Gesetzgebers klar erkennbar, ist dieser zu achten (vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 74 f., BVerfGE 149, 126; BAG 16. Oktober 2019 – 5 AZR 241/18 – Rn. 15, BAGE 168, 113; 7. Februar 2019 – 6 AZR 75/18 – Rn. 16 mwN, BAGE 165, 315).

48

bb) Gegen die Annahme, unter den Katalog des § 2 Nr. 4 AentG aF fielen alle rechtlichen Bestimmungen zur Arbeitnehmerüberlassung und damit auch die Regelungen des AÜG insgesamt (so BAG 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 68, BAGE 158, 266; ErfK/Franzen 22. Aufl. AEntG § 2 Rn. 3; Thüsing in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. § 2 AEntG Rn. 10; einschränkend Schüren/Hamann/Brors AÜG 6. Aufl. Einl. Rn. 649) spricht bereits der Wortlaut der Bestimmung. § 2 Nr. 4 AEntG aF bezieht sich nur auf die in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften enthaltenen Regelungen über die „Bedingungen“ für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen. Allerdings kann allein anhand des Wortlauts von § 2 Nr. 4 AEntG aF nicht eindeutig bestimmt werden, welche Rechts- und Verwaltungsvorschriften aufgrund dieser eingeschränkten gesetzlichen Anordnung gelten sollen. § 2 Nr. 4 AEntG aF definiert nicht, was unter „Bedingungen“ für die Überlassung von Leiharbeitnehmern zu verstehen ist und trifft – für sich betrachtet – keine weitere Aussage über seinen Anwendungsbereich.

49

cc) Der Inhalt der Bestimmung erschließt sich jedoch aus dem Gesamtzusammenhang und einer richtlinienkonformen Auslegung. § 2 AEntG aF ist mit „Allgemeine Arbeitsbedingungen“ überschrieben. Die Bestimmung regelt danach zunächst die „Arbeitsbedingungen“, die Leiharbeitnehmern von ihrem im Ausland ansässigen Leiharbeitgeber zu gewährleisten sind. Dem entsprechend heißt es in der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 16/10486 S. 11), die Vorschrift ordne an, „dass die in den Nummern 1 bis 7 einzeln aufgeführten Arbeitsbedingungen, soweit sie in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften geregelt sind, auch auf aus dem Ausland entsandte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen … unabhängig davon …, in welcher Branche … (sie) … beschäftigt sind“, Anwendung fänden.

50

dd) Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung bestätigen dieses Verständnis. Der Gesetzgeber hat, § 2 AEntG aF unmittelbar vorangestellt, in § 1 AEntG aF die Ziele des Gesetzes bestimmt. Das Gesetz bezweckt (sonst „Ziele“ im vorangehenden Satz und „zielt“ im Folgesatz und zwei Sätze später) die Schaffung und Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. § 1 AEntG aF greift ausweislich der Gesetzesbegründung damit die Motive des Unionsgesetzgebers für die Verabschiedung der Richtlinie 96/71/EG aF auf, die in deren Erwägungsgründen 13 und 14 ausdrücklich erwähnt sind (vgl. BT-Drs. 16/10486 S. 11). Ziel der Richtlinie ist es, „einen Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz festzulegen, das im Gastland von Arbeitgebern zu gewährleisten ist, die Arbeitnehmer für eine zeitlich begrenzte Arbeitsleistung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats entsenden, in dem eine Dienstleistung zu erbringen ist“ (vgl. Erwägungsgrund 13), und vom Dienstleistungserbringer unabhängig von der Dauer der Entsendung des Arbeitnehmers als „harter Kern“ … „klar definierter Schutzbestimmungen … einzuhalten“ ist (vgl. Erwägungsgrund 14).

51

Neben den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des nationalen Rechts, die Konditionen festlegen, zu denen Leiharbeitnehmer überlassen werden können, erstreckt sich der Anwendungsbereich von § 2 AEntG aF – wie eine Zusammenschau der Nr. 1 bis 3 und 5 bis 7 mit Nr. 4 der Bestimmung ergibt – auch auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des nationalen Rechts, welche die gewerbe-, vermittlungs- und erlaubnisrechtlichen Voraussetzungen der Überlassung regeln (vgl. in diesem Sinne zu Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF Franzen EuZA 2011, 451, 462; EuArbRK/Krebber 4. Aufl. RL 96/71/EG Art. 3 Rn. 20). Das Gesetz ordnet mit § 2 Nr. 4 AEntG aF die Geltung der Regelungen des nationalen Rechts über die Bedingungen „für“ die Überlassung von Arbeitskräften an und nicht (nur) der Regelungen, die sich auf die Bedingungen „der“ Überlassung beziehen. Dies spricht dafür, dass der Begriff „Bedingungen“ iSv. Voraussetzungen der Arbeitnehmerüberlassung zu verstehen ist. Beide Aspekte betreffen – im Gegensatz zu § 9 Nr. 1 und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF – weder die Vertragsbeziehungen der an der Arbeitnehmerüberlassung beteiligten Personen noch Sanktionen, die aus der Verletzung der nach § 2 AEntG aF zu beachtenden erlaubnisrechtlichen Vorgaben in § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF nach nationalem Recht folgen.

52

ee) Eine richtlinienkonforme Auslegung bestätigt, dass sich der Anwendungsbereich von § 2 Nr. 4 AEntG aF nicht auf § 9 Nr. 1 AÜG aF und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF erstreckt.

53

(1) Bei der Auslegung von § 2 AEntG aF ist, weil die Bestimmung die Richtlinie 96/71/EG aF umsetzt, diese Richtlinie und die zu ihrer Auslegung ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu beachten, soweit die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden es zulassen (vgl. hierzu EuGH 17. März 2022 – C-232/20 – [Daimler] Rn. 76 f.; 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 31; BVerfG 17. November 2017 – 2 BvR 1131/16 – Rn. 37; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 19, BAGE 165, 376; 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 39 ff., BAGE 164, 117).

54

(2) Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF bestimmt, dass die Mitgliedsstaaten dafür Sorge zu tragen haben, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Art. 1 Abs. 1 Richtlinie 96/71/EG aF genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der unter Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis g der Richtlinie genannten Aspekte „die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ garantieren, die in dem Mitgliedsstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, durch Rechtsvorschriften festgelegt sind. Zu den genannten Aspekten gehören nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 96/71/EG aF die „Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen“.

55

(3) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nennt Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF unter Buchst. a bis g abschließend die Aspekte, hinsichtlich deren die Mitgliedsstaaten den im Aufnahmemitgliedsstaat geltenden Vorschriften Vorrang einräumen und damit von Unternehmen, die Arbeitnehmer in sein Hoheitsgebiet entsenden, die Einhaltung seiner Rechtsvorschriften verlangen können (vgl. EuGH 19. Juni 2008 – C-319/06 – [Luxemburg] Rn. 96). Der Unionsgesetzgeber hat die Richtlinie 96/71/EG aF erlassen, um im Interesse der Arbeitgeber und ihres Personals die für das Arbeitsverhältnis geltenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen, wenn ein in einem Mitgliedsstaat ansässiges Unternehmen im Rahmen der Erbringung einer Dienstleistung vorübergehend Arbeitnehmer in das Gebiet eines anderen Mitgliedsstaats entsendet (vgl. EuGH 12. Februar 2015 – C-396/13 – [Sähköalojen ammattiliitto] Rn. 28 mwN). Um sicherzustellen, dass ein Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz beachtet wird, sieht Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF daher vor, dass die Mitgliedsstaaten dafür sorgen, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die Unternehmen im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der in dieser Vorschrift aufgeführten Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren (vgl. EuGH 12. Februar 2015 – C-396/13 – [Sähköalojen ammattiliitto] Rn. 29 mwN). Diese Regelung soll zum einen lauteren Wettbewerb zwischen inländischen Unternehmen und Unternehmen, die länderübergreifende Dienstleistungen erbringen, gewährleisten. Zum anderen verfolgt sie das Ziel, für die entsandten Arbeitnehmer sicherzustellen, dass bei den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die genannten Aspekte die Regeln über den Mindestschutz dieses Mitgliedsstaats angewandt werden, während die Arbeitnehmer vorübergehend im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedsstaats tätig sind (vgl. EuGH 12. Februar 2015 – C-396/13 – [Sähköalojen ammattiliitto] Rn. 29 mwN).

56

(4) Ausgehend von dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs lassen die in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF unter Buchst. a bis g abschließend genannten Aspekte die Vertragsbeziehungen der bei der Arbeitnehmerüberlassung beteiligten Personen als solche unberührt. Sie betreffen nicht die Struktur der Arbeitnehmerüberlassung, die durch eine spezifische Ausgestaltung der Vertragsbeziehung zwischen Verleiher und Entleiher einerseits (dem Arbeitnehmerüberlassungsvertrag) und zwischen Verleiher und Arbeitnehmer andererseits (dem Leiharbeitsvertrag) sowie durch das Fehlen einer arbeitsvertraglichen Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Entleiher gekennzeichnet ist (vgl. EuGH 14. November 2018 – C-18/17 – Rn. 27; 18. Juni 2015 – C-586/13 – [Martin Meat] Rn. 33; BAG 17. Januar 2017 – 9 AZR 76/16 – Rn. 21, BAGE 158, 6; 20. September 2016 – 9 AZR 735/15 – Rn. 29). Die Richtlinie 96/71/EG aF verpflichtet die Mitgliedsstaaten nicht, dafür Sorge zu tragen, dass die nach nationalem Recht bei der Verletzung erlaubnisrechtlicher Bestimmungen vorgesehenen Sanktionen – wie die in § 9 Nr. 1 AÜG aF und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF – unabhängig von dem auf das Leiharbeitsverhältnis anwendbaren Recht zwingend gelten. Fehlt eine nationale Rechtsvorschrift, die eine Sanktion für die Nichteinhaltung der Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen vorsieht, kann der Leiharbeitnehmer aus dem Unionsrecht kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ableiten (vgl. zu Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie 2008/104/EG EuGH 17. März 2022 – C-232/20 – [Daimler] Rn. 97 ff.). Dieses Verständnis liegt auch der Neufassung der Richtlinie 96/71/EG durch die Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018 (Richtlinie 96/71/EG nF) zugrunde. Art. 3 Abs. 1a der Richtlinie 96/71/EG nF sieht einen weitergehenden Schutz der Leiharbeitnehmer vor, wenn die Entsendungsdauer mehr als zwölf bzw. 18 Monate beträgt. Die Mitgliedsstaaten sollen danach unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht dafür Sorge tragen, dass die entsendenden Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern auf der Grundlage der Gleichbehandlung zusätzlich zu den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gemäß Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 96/71/EG nF sämtliche anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedsstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, festgelegt sind. Das soll ausweislich Art. 3 Abs. 1a Unterabs. 2 Buchst. a Richtlinie 96/71/EG nF aber nicht für die Bedingungen für den Abschluss und die Beendigung des Arbeitsvertrags gelten (vgl. hierzu auch EuArbRK/Krebber 4. Aufl. RL 96/71/EG Art. 3 Rn. 29). Zu letzteren gehören die § 9 Nr. 1 AÜG aF und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF.

57

(5) Art. 3 Abs. 9 der Richtlinie 96/71/EG aF bestätigt dieses Verständnis. Danach können die Mitgliedsstaaten vorsehen, dass die in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF genannten Unternehmen Arbeitnehmern im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 96/71/EG aF diejenigen Bedingungen garantieren, die in dem Mitgliedsstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, für Leiharbeitnehmer gelten. Die Bestimmung, die vor der Richtlinie 2008/104/EG in Kraft trat, eröffnet den Mitgliedsstaaten – als Ausnahme zu der abschließenden Aufzählung in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis g der Richtlinie 96/71/EG aF – die Möglichkeit, den Grundsatz der Gleichbehandlung auch gegenüber Arbeitnehmern anzuwenden, die aus anderen Mitgliedsstaaten überlassen werden (vgl. hierzu im Einzelnen unter Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte der Richtlinie Franzen EuZA 2011, 451, 462). Die Regelung wäre nicht erforderlich gewesen, bezöge sich Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 96/71/EG aF auf alle Rechtsvorschriften, die im aufnehmenden Mitgliedsstaat für die Arbeitnehmerüberlassung gelten.

58

(6) Art. 3 Abs. 10 der Richtlinie 96/71/EG aF führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Bestimmung befugt die Mitgliedsstaaten, die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für andere als die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF aufgeführten Aspekte vorzuschreiben, soweit es sich um Vorschriften im Bereich der öffentlichen Ordnung handelt. Dies stellt eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF die Aspekte abschließend benennt, hinsichtlich deren die Mitgliedsstaaten den im Aufnahmemitgliedsstaat geltenden Vorschriften Vorrang einräumen können (vgl. EuGH 19. Juni 2008 – C-319/06 – [Luxemburg] Rn. 96 f., 101). Die Bestimmung bezieht sich allein auf Vorschriften im Bereich der öffentlichen Ordnung, dh. auf nationale Vorschriften, die ein Mitgliedsstaat als Polizei- und Sicherheitsgesetze qualifiziert, deren Einhaltung als so entscheidend für die Wahrung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation des betreffenden Mitgliedsstaats angesehen wird, dass ihre Beachtung für alle Personen, die sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedsstaats befinden, und für jedes dort lokalisierte Rechtsverhältnis vorgeschrieben wird. Als Abweichung vom grundlegenden Prinzip der Dienstleistungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Ordnung ist Art. 3 Abs. 10 erster Gedankenstrich Richtlinie 96/71/EG aF eng auszulegen. Die Tragweite der Bestimmung kann nicht einseitig von den Mitgliedsstaaten bestimmt werden (vgl. EuGH 19. Juni 2008 – C-319/06 – [Luxemburg] Rn. 99 f.). Die den Mitgliedsstaaten durch Art. 3 Abs. 10 erster Gedankenstrich der Richtlinie 96/71/EG aF eingeräumte Befugnis erfasst nicht Bestimmungen, die sich – wie § 9 Nr. 1 und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF – auf das der Arbeitnehmerüberlassung zugrundeliegende Vertragsgefüge beziehen und damit das Privatrecht betreffen. Dem steht nicht entgegen, dass § 9 Nr. 1 AÜG aF die Einhaltung des in § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF öffentlich-rechtlich geregelten Erlaubnisvorbehalts sichern soll.

59

(7) Weder aus dem AEntG aF noch aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass § 2 Nr. 4 AEntG aF über die Vorgaben der Richtlinie 96/71/EG aF hinausgeht. Dies steht der Annahme entgegen, der Anwendungsbereich von § 2 Nr. 4 AEntG aF erstrecke sich auf § 9 Nr. 1 AÜG aF und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF. Beide Regelungen betreffen Sanktionen, die aus der Verletzung der nach § 2 AEntG aF zu beachtenden erlaubnisrechtlichen Vorgaben in § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF nach nationalem Recht folgen. Solche legt das AEntG aF für diesen Fall nicht fest (vgl. BT-Drs. 16/10486 S. 11).

60

(8) Eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 Unterabs. 3 AEUV (vgl. zu den Voraussetzungen BVerfG 9. Mai 2018 – 2 BvR 37/18 – Rn. 29; 15. Dezember 2016 – 2 BvR 221/11 – Rn. 36 f. mwN; BAG 23. Mai 2018 – 5 AZR 303/17 – Rn. 23 mwN; 16. Mai 2018 – 4 AZR 209/15 – Rn. 49 f.; 23. Februar 2017 – 6 AZR 843/15 – Rn. 27 f., BAGE 158, 230) bedarf es nicht. Mit der zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Fragen des Unionsrechts, soweit im vorliegenden Verfahren für die Bestimmung des Anwendungsbereichs von § 2 Nr. 4 AEntG aF von Bedeutung, als geklärt anzusehen („acte éclairé“; vgl. hierzu EuGH 9. September 2015 – C-72/14 ua. – [van Dijk] Rn. 52 ff.; 9. September 2015 – C-160/14 – [João Filipe Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 38 ff.; BVerfG 30. Juli 2019 – 2 BvR 1685/14 ua. – Rn. 315, BVerfGE 151, 202; BAG 23. Januar 2019 – 4 AZR 445/17 – Rn. 36, BAGE 165, 100).

61

c) § 9 Nr. 1 AÜG aF ist auch keine Eingriffsnorm iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, die trotz der Geltung französischen Rechts auf das Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und A anzuwenden wäre.

62

aa) Eingriffsnormen iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO sind zwingende Vorschriften, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrnehmung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie auf alle in Betracht kommenden Sachverhalte angewendet werden müssen. Nicht alle nach deutschem Recht zwingenden Bestimmungen sind Eingriffsnormen. Dies folgt für arbeitsrechtliche Vorschriften aus Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO, wonach die vereinbarte Rechtswahl dem Arbeitnehmer nicht den Schutz zwingenden deutschen Arbeitsrechts entziehen darf, sofern dieses ohne Rechtswahl nach den objektiven Anknüpfungen der Art. 8 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 4 Rom I-VO anzuwenden wäre. Diese Vorschrift wäre überflüssig, wenn jede vertraglich unabdingbare arbeitsrechtliche Norm über Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO auf das Arbeitsverhältnis einwirkte (Junker EuZA 2021, 468, 476; zu Art. 34 EGBGB aF: BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 49; 13. November 2007 – 9 AZR 134/07 – Rn. 78, BAGE 125, 24). Inländische Gesetze sind daher nur dann Eingriffsnormen iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, wenn sie entweder ausdrücklich oder nach ihrem Sinn und Zweck ohne Rücksicht auf das nach den deutschen Kollisionsnormen anwendbare Recht gelten sollen. Erforderlich ist, dass die Vorschrift nicht nur auf den Schutz von Individualinteressen der Arbeitnehmer gerichtet ist, sondern mit ihr zumindest auch öffentliche Gemeinwohlinteressen verfolgt werden (st. Rspr. vgl. nur BAG 24. Juni 2021 – 5 AZR 505/20 – Rn. 24; 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 45 ff.; 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 67, BAGE 158, 266; 18. April 2012 – 10 AZR 200/11 – Rn. 14 mwN, BAGE 141, 129; vgl. auch Deinert Internationales Arbeitsrecht § 10 Rn. 19 ff. – jeweils noch zu Art. 34 EGBGB aF; EuArbRK/Krebber 4. Aufl. VO (EG) 593/2008 Art. 9 Rn. 11; MHdB ArbR/Oetker 5. Aufl. § 13 Rn. 70; ErfK/Schlachter 22. Aufl. VO (EG) 593/2008 Art. 9 Rn. 21; HWK/Tillmanns 9. Aufl. Art. 9 Rom-I-VO Rn. 35). Als Ausnahmeregelung ist Art. 9 Rom I-VO eng auszulegen (EuGH 18. Oktober 2016 – C-135/15 – [Nikiforidis] Rn. 44; 17. Oktober 2013 – C-184/12 – [Unamar] Rn. 49 zu Art. 7 Abs. 2 EVÜ; st. Rspr. vgl. nur BAG 7. Mai 2020 – 2 AZR 692/19 – Rn. 49; 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 67, BAGE 158, 266).

63

bb) Nach diesem Maßstab ist § 9 Nr. 1 AÜG aF keine Eingriffsnorm iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO. Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz aF gewährt Leiharbeitnehmern, die von ihren Arbeitgebern aus einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union ins Inland überlassen werden, keinen Schutz, der über den hinausgeht, der durch § 2 AEntG aF gewährleistet wird. Weder aus dem Wortlaut noch aus Sinn und Zweck des AÜG aF lässt sich ein Gesetzesbefehl ableiten, dem zufolge – über die Vorgaben der Richtlinie 96/71/EG aF hinausgehend (vgl. hierzu EuGH 17. Oktober 2013 – C-184/12 – [Unamar] Rn. 52 zu Art. 7 Abs. 2 EVÜ; Schilling ZEuP 2014, 843, 848 ff.; Lüttringhaus IPRax 2014, 146, 149; vgl. auch BGH 9. Juli 2009 – Xa ZR 19/08 – Rn. 32, BGHZ 182, 24 zu Art. 34 EGBGB) – § 9 Nr. 1 AÜG aF, wenn das Leiharbeitsverhältnis dem Recht eines anderen Mitgliedsstaats der Europäischen Union unterliegt, gegenüber diesem Recht vorrangig gelten soll. Das AÜG aF sichert das öffentliche Interesse an der Einhaltung von § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF, indem § 16 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AÜG aF die Verletzung der Erlaubnispflicht als Ordnungswidrigkeit sanktioniert.

64

cc) Es bedarf deshalb im Streitfall keiner Entscheidung, ob und ggf. inwieweit unter Beachtung von Art. 23 Rom I-VO ein Rückgriff auf Art. 9 Rom I-VO möglich ist, obwohl nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs – wie bereits ausgeführt – Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 96/71/EG aF als eine speziellere Kollisionsnorm iSv. Art. 23 der Rom I-VO anzusehen ist, die Vorrang vor den Regelungen der Rom I-VO hat (vgl. zu Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF und nF: EuGH 8. Dezember 2020 – C-620/18 – [Ungarn/Parlament und Rat] Rn. 179 f.; 8. Dezember 2020 – C-626/18 – [Polen/Parlament und Rat] Rn. 133 f.).

65

d) Eine Vorlage an den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts nach § 45 Abs. 2 ArbGG und in deren Vorfeld eine Divergenzanfrage beim Siebten Senat nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG waren nicht geboten. Eine Vorlage nach § 45 ArbGG kommt nur dann in Betracht, wenn eine entscheidungserhebliche Abweichung zu der identischen Rechtsfrage vorliegt. Diese Voraussetzung betrifft die zu treffende Entscheidung wie auch die vorhergehende Entscheidung, von der abgewichen werden soll (vgl. BAG 22. Juli 2010 – 6 AZR 170/08 – Rn. 71). Soweit der Siebte Senat des Bundesarbeitsgerichts in seinem Urteil vom 21. März 2017 (- 7 AZR 207/15 – BAGE 158, 266) ausgeführt hat, § 2 AEntG ordne entsprechend Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG aF an, dass es sich bei den erwähnten Rechtsvorschriften um Eingriffsnormen iSv. Art. 9 Rom I-VO bzw. Art. 34 EGBGB (aF) handele, und unter den Katalog des § 2 Nr. 4 AEntG aF fielen die rechtlichen Bestimmungen zur Arbeitnehmerüberlassung und damit auch die Regelungen des AÜG (vgl. BAG 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 68, aaO), war dies für seine Entscheidung nicht tragend. Der Siebte Senat hat entscheidungserheblich darauf abgestellt, dass die Arbeitnehmerin im Streitfall von ihrer Vertragsarbeitgeberin nicht zur Arbeitsleistung iSd. § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF überlassen wurde und die in § 9 Nr. 1 AÜG aF und § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF vorgesehenen Rechtsfolgen schon deshalb nicht eintreten konnten, weil für ihren Einsatz im Inland keine Erlaubnis iSd. § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF erforderlich war (vgl. BAG 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 64, 69 ff., aaO). Es fehlt zudem im Hinblick auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom 17. März 2022 (- C-232/20 – [Daimler]) an der für eine Anrufung des Großen Senats erforderlichen Identität der Rechtsfrage (vgl. hierzu BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 62, BAGE 165, 1; 19. September 2012 – 5 AZR 628/11 – Rn. 25; 28. Juni 2012 – 6 AZR 780/10 – Rn. 81, BAGE 142, 202).

66

C. Die Zahlungsanträge der Klägerin fallen nicht zur Entscheidung an. Es handelt sich nach der gebotenen Auslegung um einen unechten Hilfsantrag, der erkennbar nur für den Fall gestellt ist, dass dem Feststellungsantrag stattgegeben wird. Unschädlich ist, dass die Klägerin das Eventualverhältnis nicht ausdrücklich in der Fassung ihres Antrags zum Ausdruck gebracht hat (vgl. BAG 26. April 2018 – 3 AZR 586/16 – Rn. 25, BAGE 162, 354).

67

D. Die Kostenentscheidung bleibt wegen des Erfordernisses der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung der Schlussentscheidung vorbehalten. Dies gilt auch für die Kosten der Revision (vgl. BAG 22. April 2010 – 8 AZR 872/07 – Rn. 44).

        

    Kiel    

        

    Kiel
für die abwesende Richterin
am Bundesarbeitsgericht Weber    

        

    Suckow    

        

        

        

    Lipphaus    

        

    Lohbeck