2 AZR 130/21 (A)

Ordentliche Kündigung - Kirchenaustritt vor Beginn des Arbeitsverhältnisses

Details

  • Aktenzeichen

    2 AZR 130/21 (A)

  • ECLI

    ECLI:DE:BAG:2022:210722.B.2AZR130.21A.0

  • Art

    EuGH-Vorlage

  • Datum

    21.07.2022

  • Senat

    2. Senat

Tenor

I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:

1. Ist es mit Unionsrecht, insbesondere der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG) im Licht von Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta), vereinbar, wenn eine nationale Regelung vorsieht,

dass eine private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht,

a) Personen als ungeeignet für eine Beschäftigung in ihren Diensten erachten darf, die vor Begründung des Arbeitsverhältnisses aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten sind, oder

b) von den für sie arbeitenden Personen verlangen darf, dass sie nicht vor Begründung des Arbeitsverhältnisses aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten sind, oder

c) den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses davon abhängig machen darf, dass eine für sie arbeitende Person, die vor Begründung des Arbeitsverhältnisses aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten ist, dieser wieder beitritt,

wenn sie von den für sie arbeitenden Personen im Übrigen nicht verlangt, dieser Religionsgemeinschaft anzugehören?

2. Sofern die erste Frage bejaht wird: Welche gegebenenfalls weiteren Anforderungen gelten gemäß der RL 2000/78/EG im Licht von Art. 21 der Charta an die Rechtfertigung einer solchen Ungleichbehandlung wegen der Religion?

II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.

Leitsatz

Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:

1. Ist es mit Unionsrecht, insbesondere der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG) im Licht von Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta), vereinbar, wenn eine nationale Regelung vorsieht, dass eine private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht,

a) Personen als ungeeignet für eine Beschäftigung in ihren Diensten erachten darf, die vor Begründung des Arbeitsverhältnisses aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten sind, oder

b) von den für sie arbeitenden Personen verlangen darf, dass sie nicht vor Begründung des Arbeitsverhältnisses aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten sind, oder

c) den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses davon abhängig machen darf, dass eine für sie arbeitende Person, die vor Begründung des Arbeitsverhältnisses aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten ist, dieser wieder beitritt,

wenn sie von den für sie arbeitenden Personen im Übrigen nicht verlangt, dieser Religionsgemeinschaft anzugehören?

2. Sofern die erste Frage bejaht wird: Welche gegebenenfalls weiteren Anforderungen gelten gemäß der RL 2000/78/EG im Licht von Art. 21 der Charta an die Rechtfertigung einer solchen Ungleichbehandlung wegen der Religion?

Entscheidungsgründe

A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses.

2

Die Beklagte ist dem Deutschen Caritasverband angeschlossen und betreibt unter anderem ein Krankenhaus in D. Sie widmet sich caritativer Hilfe in Form der Krankenbehandlung und -pflege als Teil des Sendungsauftrags der katholischen Kirche. Die Klägerin war bei ihr bis Mitte 2014 als Hebamme beschäftigt. Im Anschluss daran war sie selbständig. Im September 2014 trat die Klägerin aus der katholischen Kirche aus. Der Kirchenaustritt ist nach deutschem Recht eine zulässige Beendigung der staatlich registrierten Kirchenmitgliedschaft. Bei einem neuerlichen Einstellungsgespräch im Frühjahr 2019 wurde die Zugehörigkeit der Klägerin zur katholischen Kirche nicht thematisiert. Den ihr zuvor übersandten und vom Krankenhaus bereits unterzeichneten Dienstvertrag reichte sie zusammen mit einem Personalfragebogen zu Beginn des Arbeitsverhältnisses am 1. April 2019 an die Personalabteilung der Beklagten zurück.

3

Der Dienstvertrag sieht vor, dass die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse Bestandteil des Dienstverhältnisses ist. Diese lautet in der hier maßgeblichen Fassung des Beschlusses der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands vom 27. April 2015 (nachfolgend Grundordnung) auszugsweise:

       

„Artikel 1 Grundprinzipien des kirchlichen Dienstes

        

Alle in einer Einrichtung der katholischen Kirche Tätigen tragen durch ihre Arbeit ohne Rücksicht auf die arbeitsrechtliche Stellung gemeinsam dazu bei, dass die Einrichtung ihren Teil am Sendungsauftrag der Kirche erfüllen kann (Dienstgemeinschaft). …

                 
        

Artikel 3 Begründung des Arbeitsverhältnisses

        

…     

        

(4) Für keinen Dienst in der Kirche geeignet ist, wer sich kirchenfeindlich betätigt oder aus der katholischen Kirche ausgetreten ist.

        

…       

        

Artikel 4 Loyalitätsobliegenheiten

        

(1) Von den katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird erwartet, dass sie die Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten. …

        

(2) Von nichtkatholischen christlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird erwartet, dass sie die Wahrheiten und Werte des Evangeliums achten und dazu beitragen, sie in der Einrichtung zur Geltung zu bringen.

        

(3) Nichtchristliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen bereit sein, die ihnen in einer kirchlichen Einrichtung zu übertragenden Aufgaben im Sinne der Kirche zu erfüllen.

        

(4) Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben kirchenfeindliches Verhalten zu unterlassen. …

                 
        

Artikel 5 Verstöße gegen Loyalitätsobliegenheiten

        

…     

        

(2) Für eine Kündigung aus kirchenspezifischen Gründen sieht die Kirche insbesondere folgende Verstöße gegen die Loyalitätsobliegenheiten im Sinn des Art. 4 als schwerwiegend an:

        

1. Bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern:

        

a) das öffentliche Eintreten gegen tragende Grundsätze der katholischen Kirche (z. B. die Propagierung der Abtreibung oder von Fremdenhass), …

        

2. Bei katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern:

        

a) den Austritt aus der katholischen Kirche …“

4

Die Klägerin hatte im Personalfragebogen ihren Austritt aus der katholischen Kirche angegeben. Nachdem dies der Beklagten aufgefallen war, teilte deren Personalleiter der Klägerin mit, dass ihr Austritt mit der Grundordnung nicht im Einklang stehe. In einem Gespräch mit dem Institutspfarrer erläuterte die Klägerin die Gründe für ihren Kirchenaustritt. Sie gab an, sie habe sich als Hebamme in besonderer Weise dem Kinderschutz verschrieben und mit ihrem Austritt darauf reagiert, dass die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche strafrechtlich nicht verfolgt würden. Sie werde sofort wieder in die Kirche eintreten, wenn „die Schuldigen bestraft“ würden. In einer E-Mail an den Personalleiter der Beklagten führte der Pfarrer aus: „[Die Klägerin] war heute zu einem einstündigen Gespräch bei mir: Es wäre schade, wenn das …-Hospital eine solche religiös geprägte Mitarbeiterin verlieren würde.“ In einem weiteren Gespräch stellte der Personalleiter der Klägerin eine Kündigung in Aussicht, nachdem sie die Frage, ob sie nunmehr wieder in die Kirche eintreten wolle, verneint hatte.

5

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien nach Beteiligung der bei ihr gebildeten Mitarbeitervertretung mit Schreiben vom 26. Juli 2019 zum 31. August 2019. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat sie auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Mit ihrer Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

B. Einschlägiges deutsches Recht

I. Verfassungsrecht und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

6

Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung:

        

„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

        

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

7

Art. 140 GG:

        

„Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“

8

Art. 137 Abs. 3 Satz 1 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 (WRV):

        

„Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“

9

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützen Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG auch die korporative Religionsfreiheit. Deren elementarer Bestandteil sei die Bestimmung der Eigenart des kirchlichen Dienstes (kirchliches Proprium). Seine Formulierung obliege allein den Kirchen (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12, DE:BVerfG:2014:rs20141022.2bvr066112 – Rn. 101). Es umfasse alle Maßnahmen, die der Sicherstellung der religiösen Dimension des Wirkens im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum kirchlichen Grundauftrag dienten. Bedienten sich die Kirchen oder ihre Einrichtungen der Privatautonomie zur Begründung von Arbeitsverhältnissen, finde auf diese Arbeitsverhältnisse als Folge der Rechtswahl zwar das staatliche Arbeitsrecht Anwendung. Die Einbeziehung der Arbeitsverhältnisse unter anderem bei den kirchlichen Einrichtungen in das staatliche Arbeitsrecht hebe die Zugehörigkeit dieser Arbeitsverhältnisse zu den „eigenen Angelegenheiten“ der Kirche aber nicht auf (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 110, am angegebenen Ort). Die Kirchen könnten deshalb der Gestaltung des kirchlichen Dienstes auch dann, wenn sie ihn auf der Grundlage von Arbeitsverträgen regeln, das besondere Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft aller ihrer Mitarbeiter zugrunde legen (BVerfG 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – zu B II 1 d der Gründe, BVerfGE 70, 138). Bei Streitigkeiten in kirchlichen Arbeitsverhältnissen hätten die staatlichen Gerichte die Vorgaben der jeweiligen verfassten Kirche, insbesondere deren glaubensdefiniertes Selbstverständnis und die Eigenart des kirchlichen Dienstes als Maßstab zu beachten und diese ihren Wertungen und Entscheidungen zugrunde zu legen, solange sie nicht in Widerspruch zu grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen stünden (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 118, am angegebenen Ort). Besondere Rechtsvorschriften, die Rechtsbeziehungen in kirchlichen Arbeitsverhältnissen ausgestalten, bestehen im nationalen Recht – soweit hier von Interesse – nicht.

II. Gesetzliche Vorschriften

10

1. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 23. Mai 2022 (BGBl. I S. 768):

        

„§ 1 Ziel des Gesetzes

        

Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.

        

§ 2 Anwendungsbereich

        

(1) Benachteiligungen aus einem in § 1 genannten Grund sind nach Maßgabe dieses Gesetzes unzulässig in Bezug auf:

        

1. …   

        

2. die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich Arbeitsentgelt und Entlassungsbedingungen, insbesondere in individual- und kollektivrechtlichen Vereinbarungen und Maßnahmen bei der Durchführung und Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses sowie beim beruflichen Aufstieg,

        

…       

        

§ 3 Begriffsbestimmungen

        

(1) Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. …

        

(2) Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.

        

…       

        

§ 7 Benachteiligungsverbot

        

(1) Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.

        

…       

        

§ 8 Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen

        

(1) Eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 genannten Grundes ist zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.

        

…       

        

§ 9 Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung

        

(1) Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.

        

(2) Das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung berührt nicht das Recht der in Absatz 1 genannten Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder der Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen zu können.“

11

2. § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, berichtigt S. 2909 und BGBl. 2003 I S. 738):

        

„§ 134 Gesetzliches Verbot

        

Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“

C. Unionsrecht

12

Nach Auffassung des Senats sind im Unionsrecht einschlägig:

        

•       

Art. 1, Art. 2 Abs. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 4 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. EG L 303 vom 2. Dezember 2000 S. 16; nachfolgend RL 2000/78/EG),

        

•       

Art. 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. EU C 202 vom 7. Juni 2016 S. 47, berichtigt ABl. EU C 400 vom 28. Oktober 2016 S. 1; nachfolgend AEUV) sowie

        

•       

Art. 10 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. EU C 202 vom 7. Juni 2016 S. 389; nachfolgend Charta).

D. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Erläuterung der Vorlagefragen

I. Zur ersten Vorlagefrage

13

1. Vorliegen einer unmittelbaren Benachteiligung aufgrund der Religion

14

Der Senat geht davon aus, dass die Klägerin durch die Kündigung vom 26. Juli 2019 aus Gründen der Religion unmittelbar im Sinne von §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 AGG benachteiligt wird. Dies entspricht einer unmittelbaren Diskriminierung wegen der Religion im Sinne von Art. 1, Art. 2 Abs. 2 Buchst. a RL 2000/78/EG.

15

a) Benachteiligungen aus einem in § 1 AGG genannten Grund sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG unter anderem in Bezug auf Entlassungsbedingungen unzulässig, und damit auch, wie im Streitfall, bei der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses. Der entsprechend eröffnete Geltungsbereich der RL 2000/78/EG ergibt sich aus ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. c.

16

b) Durch die Kündigung der Beklagten wird die Klägerin gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG unmittelbar aus Gründen der Religion im Sinne von § 1 AGG, nämlich wegen ihres Austritts aus der katholischen Kirche, gegenüber anderen Beschäftigten benachteiligt.

17

aa) § 1 AGG nimmt mit dem Begriff „Religion“ den entsprechenden Begriff der RL 2000/78/EG auf. Zwar wird dieser in der Richtlinie selbst nicht definiert. Der Unionsgesetzgeber hat aber in Satz 2 des ersten Erwägungsgrundes der Richtlinie unter anderem auf die Grundrechte Bezug genommen, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (nachfolgend EMRK) gewährleistet sind. Hiervon ist auch Art. 9 EMRK erfasst. Danach hat jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wobei dieses Recht nicht nur die Freiheit umfasst, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat zu bekennen, sondern auch die negative Religionsfreiheit (EGMR 25. Juni 2020 – 52484/18, CE:ECHR:2020: 0625JUD005248418 – Rn. 43 f.; 6. April 2017 – 10138/11, 16687/11, 25359/11, 28919/11, CE:ECHR:2017:0406JUD001013811 – Rn. 77 ff.). So garantiert Art. 9 EMRK ebenso die Freiheit, einer Religion nicht anzugehören (EGMR 18. März 2011 – 30814/06, CE:ECHR:2011:0318JUD003081406 – Rn. 60). Hiervon dürfte auch das Recht umfasst sein, ein Mitgliedschaftsverhältnis zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft zu beenden. Der Unionsgesetzgeber hat im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78/EG zudem auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts verwiesen. Zu den Rechten, die sich aus diesen gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben und die in der Charta bekräftigt wurden, gehört das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Wie sich aus den Erläuterungen zur Charta (ABl. EU C 303 vom 14. Dezember 2017 S. 17) ergibt, entspricht das in Art. 10 Abs. 1 der Charta gewährleistete Recht dem durch Art. 9 EMRK garantierten; es hat nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses (vgl. EuGH 15. Juli 2021 – C-804/18 und C-341/19, EU:C:2021:594 – [WABE und MH Müller Handel] Rn. 48; 14. März 2017 – C-157/15, EU:C:2017:203 – [G4S Secure Solutions] Rn. 25 ff.).

18

bb) Die Beklagte beruft sich darauf, dass sie – entsprechend den Vorgaben der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Grundordnung – Mitarbeiter, die aus der katholischen Kirche ausgetreten sind, als nicht geeignet für eine Tätigkeit im kirchlichen Dienst in dem von ihr getragenen Krankenhaus erachtet. Sie knüpft damit die durch die Kündigung bewirkte Benachteiligung der Klägerin unmittelbar an die Ausübung ihrer negativen Religionsfreiheit durch den von ihr erklärten Austritt aus der katholischen Kirche. Ein Mitarbeiter, der niemals Mitglied der katholischen Kirche war, ist aus Sicht der Beklagten nicht aus diesem Grund für die Tätigkeit ungeeignet. Dies entspricht Art. 3 Abs. 4 und Art. 5 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a der Grundordnung. Danach führt nur ein Austritt aus der katholischen Kirche zur Ungeeignetheit bzw. liegt nur im Austritt aus der katholischen Kirche ein schwerwiegender Verstoß gegen Loyalitätsobliegenheiten. Die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung mit Personen, die aus anderen Religionsgemeinschaften ausgetreten sind bzw. eine andere Religion aufgegeben oder nie einer Religionsgemeinschaft angehört haben, erfolgt damit unmittelbar aus Gründen der Religion im Sinne des § 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG.

19

cc) Es liegt somit keine im Sinne von § 3 Abs. 2 AGG nur mittelbare Ungleichbehandlung der Klägerin wegen der Religion bzw. nur mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2000/78/EG vor. Die Beklagte differenziert nicht anhand von dem „Anschein nach neutrale(n) Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“, sondern unmittelbar und ausschließlich danach, ob ein Mitarbeiter sein Mitgliedschaftsverhältnis zur katholischen Kirche aufgegeben hat. Dabei ist für sie auch nicht von Bedeutung, ob der Mitarbeiter nach seinem Austritt entsprechend der in Art. 4 Abs. 2 der Grundordnung formulierten Erwartung an nichtkatholische christliche Mitarbeiter die Wahrheiten und Werte des Evangeliums achtet und dazu beiträgt, sie in der Einrichtung zur Geltung zu bringen, bzw. ob er nach seinem Austritt entsprechend der in Art. 4 Abs. 3 der Grundordnung formulierten Erwartung an nichtchristliche Mitarbeiter bereit ist, die ihm übertragenen Aufgaben im Sinne der Kirche zu erfüllen.

20

2. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage

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Es bedarf einer Beantwortung der ersten Vorlagefrage durch den Gerichtshof, damit der Senat beurteilen kann, ob die Ungleichbehandlung der Klägerin entweder nach § 9 Abs. 1, § 9 Abs. 2 oder nach § 8 AGG gerechtfertigt ist.

22

a) Der Senat geht davon aus, dass die von der Klägerin gegen die Wirksamkeit der Kündigung vom 26. Juli 2019 geltend gemachten weiteren Unwirksamkeitsgründe – eine nicht ordnungsgemäße Beteiligung der Mitarbeitervertretung sowie ein treuwidriges Verhalten der Beklagten – nicht vorliegen. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts lässt insoweit weder einen revisiblen Rechtsfehler erkennen noch hat die Klägerin einen solchen aufgezeigt.

23

b) Damit ist für den Senat entscheidungserheblich, ob die unmittelbare Benachteiligung der Klägerin wegen ihres Austritts aus der katholischen Kirche unter Berücksichtigung der Vorgaben des Unionsrechts gerechtfertigt sein kann.

24

aa) Nach nationalem Recht kommt eine verfassungskonforme Auslegung von § 9 Abs. 1, § 9 Abs. 2 oder § 8 AGG dahin in Betracht, dass eine zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion vorliegt, weil nach der in Rn. 9 dargestellten bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich zu berücksichtigen wäre, dass sich der Kirchenaustritt aus Sicht der katholischen Kirche weder mit deren Glaubwürdigkeit noch mit der von ihr geforderten vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Vertragsparteien verträgt (vgl. BVerfG 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – zu B II 4 c der Gründe, BVerfGE 70, 138).

25

bb) Allerdings setzt § 9 AGG Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG und § 8 AGG unter anderem deren Art. 4 Abs. 1 um (BT-Drs. 16/1780 S. 35). Beide Bestimmungen des nationalen Rechts sind daher, soweit möglich, unionsrechtskonform auszulegen (EuGH 11. September 2018 – C-68/17, EU:C:2018:696 – [IR] Rn. 63 ff.; 17. April 2018 – C-414/16, EU:C:2018:257 – [Egenberger] Rn. 71 ff.). Dabei ginge das Unionsrecht auch einer anderenfalls möglicherweise gebotenen verfassungskonformen Auslegung – zumindest grundsätzlich (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 und andere, DE:BVerfG:2016:rs20160621.2bvr272813 – [OMT-Programm] Rn. 118) – vor (EuGH 15. Juli 1964 – C-6/64, EU:C:1964:66 – [Costa]; 9. März 1978 – C-106/77, EU:C:1978:49 – [Simmenthal] Rn. 17 f.). Die RL 2000/78/EG konkretisiert in dem von ihr erfassten Bereich das zwischenzeitlich in Art. 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot (EuGH 21. Oktober 2021 – C-824/19, EU:C:2021:862 – [Komisia za zashtita ot diskriminatsia] Rn. 32; 26. Januar 2021 – C-16/19, EU:C:2021:64 – [Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie] Rn. 33). Der Senat ist – entgegen vereinzelter Stimmen aus dem den Kirchen nahestehenden Schrifttum – auch der Auffassung, dass das Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht seinerseits in Deutschland unanwendbar ist. Es beruht weder auf einem Akt ultra vires noch berührt es die Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. dazu die ausführliche Begründung BAG 20. Februar 2019 – 2 AZR 746/14, DE:BAG:2019:200219.U.2AZR746.14.0 – Rn. 48 ff.).

26

cc) Ob ein Verständnis von § 9 AGG dahingehend in Betracht kommt, dass das Verlangen, vor dem Beginn eines Beschäftigungsverhältnisses nicht aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten zu sein bzw. dieser wieder beizutreten, eine gerechtfertigte berufliche Anforderung im Sinne von Absatz 1 der Bestimmung oder eine nach deren Absatz 2 berücksichtigungsfähige Loyalitätsanforderung sein kann, hängt deshalb davon ab, ob Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78/EG im Licht von Art. 21 der Charta ein solches Verständnis erlaubt. Dies ist nach dem Richtlinienwortlaut zweifelhaft. Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt hierzu, soweit ersichtlich, bislang nicht vor. Sollte § 9 AGG unter Berücksichtigung des Unionsrechts die Ungleichbehandlung der Klägerin wegen ihres Austritts aus der katholischen Kirche nicht rechtfertigen können, käme es darauf an, ob Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG ein entsprechendes Verständnis von § 8 AGG zulässt.

27

dd) Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Beklagten um eine private Organisation handelt, deren Ethos im Sinne von Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG auf religiösen Grundsätzen beruht. Zugleich ist sie eine einer Religionsgemeinschaft, nämlich der katholischen Kirche, im Sinne des § 9 AGG zuzuordnende Einrichtung.

28

ee) Aus Sicht des Senats lassen sich die Vorlagefragen, um deren Beantwortung er den Gerichtshof ersucht, wie folgt den Bestimmungen der RL 2000/78/EG zuordnen. Die Vorlagefragen I 1 a und c betreffen die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 sowie Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG (Rn. 30 – 32 und 35), die Vorlagefrage I 1 b betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG (Rn. 33 f.).

29

ff) Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG unterscheidet zwischen der Rechtfertigung einer Diskriminierung durch eine gerechtfertigte berufliche Anforderung einerseits (Unterabs. 1) und Loyalitätsanforderungen andererseits (Unterabs. 2).

30

(1) Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG nennt unter anderem die Religion als mögliche gerechtfertigte berufliche Anforderung. Dies umfasst zumindest dem Wortlaut nach nicht die Anforderung, nicht aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten zu sein bzw. dieser erneut beizutreten. Zudem kann nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG die Religion oder Weltanschauung einer Person nur nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ darstellen (vgl. dazu auch EuGH 17. April 2018 – C-414/16, EU:C:2018:257 – [Egenberger]).

31

(a) Im vorliegenden Fall macht der kirchliche Arbeitgeber die Ausübung der Tätigkeit jedoch nicht von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten verfassten Kirche oder Religionsgemeinschaft abhängig. Die Beklagte verlangt nicht, dass ihre Mitarbeiter oder die bei ihr beschäftigten Hebammen der katholischen Kirche angehören müssen. Die Mitarbeiter dürfen nur nicht aus der katholischen Kirche ausgetreten sein. Sie können im Übrigen keiner oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehören.

32

(b) Allerdings hält es der Senat nicht für ausgeschlossen, dass nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG mit Blick auf die von Art. 17 AEUV und Art. 10 Abs. 1 der Charta geschützte Autonomie der Kirchen und der anderen Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht (vgl. dazu EuGH 17. April 2018 – C-414/16, EU:C:2018:257 – [Egenberger] Rn. 50), über seinen Wortlaut hinaus nicht nur das Innehaben einer bestimmten Religion, sondern auch der Umstand, nicht aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten zu sein bzw. das Verlangen, dieser erneut beizutreten, eine gerechtfertigte berufliche Anforderung sein kann. Nach Art. 3 Abs. 4 der Grundordnung ist für keinen Dienst in der Kirche geeignet, wer aus der katholischen Kirche ausgetreten ist. Der Kirchenaustritt gehört nach kanonischem Recht zu den schwersten Vergehen gegen den Glauben und die Einheit der Kirche (vgl. BVerfG 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – zu B II 4 c der Gründe, BVerfGE 70, 138).

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(2) Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG sieht vor, dass unter anderem private Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, „von den für sie arbeitenden Personen verlangen (können), dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten“. Dies betrifft dem Wortlaut nach Verhaltensanforderungen an bereits beschäftigte Mitarbeiter. Die Benachteiligung der Klägerin beruht dagegen darauf, dass sie vor Begründung des Beschäftigungsverhältnisses aus der katholischen Kirche ausgetreten ist. Die in der Grundordnung vorgesehenen Loyalitätspflichten galten zu diesem Zeitpunkt zwischen den Parteien nicht. Allerdings hält es der Senat nicht für ausgeschlossen, dass Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG mit Blick auf die von Art. 17 AEUV und Art. 10 Abs. 1 der Charta geschützte Autonomie der Kirchen und der anderen Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht (vgl. dazu EuGH 17. April 2018 – C-414/16, EU:C:2018:257 – [Egenberger] Rn. 50), über seinen Wortlaut hinaus dahin zu verstehen ist, dass ein Austritt aus der katholischen Kirche ein im erst danach begründeten Beschäftigungsverhältnis fortwirkendes illoyales Verhalten sein kann.

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(3) Durch die Urteile des Gerichtshofs vom 17. April 2018 (- C-414/16, EU:C:2018:257 – [Egenberger]) und 11. September 2018 (- C-68/17, EU:C:2018:696 – [IR]) ist die vom Senat erbetene Auslegung von Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG nicht obsolet. Sie betreffen beide nicht die vorliegende Konstellation, dass eine private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, von den für sie arbeitenden Personen verlangt, dass sie vor Begründung des Arbeitsverhältnisses nicht aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten sind bzw. dass sie, sofern das der Fall sein sollte, dieser wieder beitreten, während sie von den für sie arbeitenden Personen im Übrigen nicht verlangt, dieser Religionsgemeinschaft anzugehören.

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gg) Nach Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG kann eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, gerechtfertigt sein, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Die Eignungsanforderung, nicht aus einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausgetreten zu sein, könnte ein solches mit der Religion „zusammenhängendes Merkmal“ sein (zur Abgrenzung vom Grund, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, vgl. EuGH 21. Oktober 2021 – C-824/19, EU:C:2021:862 – [Komisia za zashtita ot diskriminatsia] Rn. 44; 7. November 2019 – C-396/18, EU:C:2019:929 – [Cafaro] Rn. 59; 14. März 2017 – C-188/15, EU:C:2017:204 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 37). Die Frage, ob eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung sowie ein rechtmäßiger Zweck und eine angemessene Anforderung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG vorliegen, wäre aber dem Wortlaut der Bestimmung nach, anders als nach Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG, nicht mit Blick auf das „Ethos der Organisation“ zu beantworten. Dagegen spräche auch, dass der Begriff „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG auf eine Anforderung verweist, die sich nicht auf subjektive Erwägungen des Arbeitgebers erstreckt, sondern die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben ist (EuGH 14. März 2017 – C-188/15, EU:C:2017:204 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 40). Für eine Tätigkeit als Hebamme ist es indes nicht objektiv erforderlich, nicht aus der katholischen Kirche ausgetreten zu sein. Es erscheint jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen, das Ethos einer auf religiösen Grundsätzen beruhenden Organisation als eine hinreichend von bloß subjektiven Erwägungen abgrenzbare objektive Anforderung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG anzusehen. Auch in diesem Zusammenhang könnte die von Art. 17 AEUV und Art. 10 Abs. 1 der Charta geschützte Autonomie der Kirchen und der anderen Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, zu berücksichtigen sein (zu Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG vgl. EuGH 17. April 2018 – C-414/16, EU:C:2018:257 – [Egenberger] Rn. 50). Allerdings ist Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG, soweit er es ermöglicht, vom Diskriminierungsverbot abzuweichen, im Licht ihres 23. Erwägungsgrundes, der auf „sehr [begrenzte] Bedingungen“ Bezug nimmt, unter denen eine solche Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein kann, eng auszulegen (EuGH 21. Oktober 2021 – C-824/19, EU:C:2021:862 – [Komisia za zashtita ot diskriminatsia] Rn. 45; 15. Juli 2021 – C-795/19, EU:C:2021:606 – [Tartu Vangla] Rn. 33; 13. September 2011 – C-447/09, EU:C:2011:573 – [Prigge und andere] Rn. 72).

II. Zur zweiten Vorlagefrage

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Für den Fall, dass die erste Vorlagefrage bejaht wird, stellt sich die Frage, welche gegebenenfalls weiteren Anforderungen an eine Rechtfertigung der hier in Rede stehenden Ungleichbehandlung wegen der Religion gelten. Da der Senat ohne die mit der ersten Vorlagefrage erbetene Auslegung durch den Gerichtshof nicht beurteilen kann, ob eine Rechtfertigung nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 oder Unterabs. 2 RL 2000/78/EG oder Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG in Betracht kommt, ist unklar, ob und gegebenenfalls welche weiteren Voraussetzungen für eine Rechtfertigung vorliegen müssen.

        

    Koch    

        

    Schlünder    

        

    Rachor    

        

        

        

    Trümner    

        

    Brossardt