Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Frau Ingrid Schmidt, ist mit Ablauf des 30. September 2021 in den Ruhestand getreten. Im Rahmen einer Feierstunde wurde sie heute im Bundesarbeitsgericht durch den Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, verabschiedet. Der Minister sprach ihr im Namen des Bundespräsidenten für die dem deutschen Volk geleisteten treuen Dienste Dank und Anerkennung aus.
Frau Schmidt wurde 1955 in Bürstadt geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main und Zweitem Staatsexamen im April 1983 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Privat- und Verfahrensrecht sowie Rechtsvergleichung an der Universität Frankfurt am Main. Im Juni 1985 trat sie als Richterin in die Hessische Sozialgerichtsbarkeit ein, wo sie zuletzt als Richterin am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt tätig war. Von November 1990 bis Februar 1993 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet. Zum 1. August 1994 wurde Frau Schmidt zur Richterin am Bundesarbeitsgericht ernannt. Sie war zunächst Mitglied des Siebten Senats und gehörte seit Juni 2000 dem Ersten Senat an. Nach ihrer Ernennung zur Vorsitzenden Richterin im September 2002 war sie dem Sechsten Senat als Vorsitzende zugewiesen. In dieser Funktion hat sie maßgeblich dazu beigetragen, die Rechtsprechung zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien, zum Verbot der Diskriminierung befristet Beschäftigter beim Entgelt, zum Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit, zur Erstattung von Fort- und Ausbildungskosten sowie zum Recht des Berufsausbildungsverhältnisses weiterzuentwickeln und zahlreiche Streitfragen zur Auslegung der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes sowie von Tarifverträgen und Arbeitsrechtsregelungen der Religionsgesellschaften und ihrer Einrichtungen zu klären.
Im März 2005 wurde Frau Schmidt zur Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts berufen und übernahm den Vorsitz des Ersten Senats. Mit diesem entwickelte sie die Rechtsprechung zur Tariffähigkeit und -zuständigkeit von Arbeitnehmervereinigungen und deren Spitzenorganisationen, zum Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassungsrecht und Mitbestimmungsrecht richtungsweisend weiter und trug in einer Vielzahl von rechtsfortbildenden Entscheidungen wesentlich zur Sicherung der kollektiven Ordnung bei. In dem gesetzlich nicht geregelten und sozialpolitisch spannungsgeladenen Arbeitskampfrecht brachte der Erste Senat unter dem Vorsitz von Frau Schmidt die Grundrechtspositionen der Arbeitskampfparteien zu einem angemessenen Ausgleich und entwickelte eine den Vorgaben des Grundgesetzes entsprechende Arbeitskampfordnung. In diesem Zusammenhang hervorzuheben sind die grundlegenden Entscheidungen zum Streik in kirchlichen Einrichtungen, zu neuen Arbeitskampfformen, zur Streikmobilisierung auf einem Firmenparkplatz, zu Streikbruchprämien sowie zum Anspruch Dritter auf Schadensersatz bei rechtswidrigen Streiks. Auch im Betriebsverfassungsrecht hat Frau Schmidt die Rechtsprechung zu den Beteiligungsrechten des Betriebsrats maßgebend geprägt und mit dem Ersten Senat der Praxis wichtige Leitlinien für ein in sich stimmiges System der betrieblichen Mitbestimmung an die Hand gegeben. Aus der breiten Spruchpraxis der vergangenen 16 Jahre sind hierbei vor allem die Entscheidungen zur Mitbestimmung des Betriebsrats bei betrieblicher Lohngestaltung und Entlohnungsgrundsätzen, Arbeitszeitregelungen, Maßnahmen der Videoüberwachung im Betrieb, zum Gesundheitsschutz, zur Betriebsvereinbarungsoffenheit von Arbeitsverträgen und zur Arbeitnehmerüberlassung von Rote-Kreuz-Schwestern zu nennen. An den Gerichtshof der Europäischen Union richtete der Erste Senat unter dem Vorsitz von Frau Schmidt zuletzt die Frage, ob das Vorschlagsrecht der Gewerkschaften bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrats einer durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts gegründeten Europäischen Gesellschaft im bisherigen Umfang erhalten bleiben kann.
Frau Schmidt hat stets betont, als Richterin Verantwortung für das Funktionieren des Rechtsstaats zu tragen, ohne den eine Demokratie nicht denkbar sei. Ihr Wirken war von der Überzeugung geleitet, dass das Arbeitsrecht einen entscheidenden Beitrag zum sozialen Frieden in Deutschland leistet. Ein besonderes Augenmerk galt dem Schutz der kollektiven Ordnung, in der sie einen unverzichtbaren Pfeiler zur Regelung der Arbeitsbedingungen in Deutschland sah.
Nach fünf Präsidenten war Frau Schmidt die erste Frau an der Spitze des Bundesarbeitsgerichts. Sie hat sich in ihrem Amt einer frauenfreundlicheren Personalpolitik verschrieben und hatte damit nachhaltig Erfolg. Nachdem sie bei ihrer Ernennung zur Richterin am Bundesarbeitsgericht die einzige Frau im Kollegium war, ist das richterliche Personal am Ende ihrer Amtszeit nahezu geschlechterparitätisch besetzt.
Die Eigenständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit und deren Schutz vor politischer Einflussnahme lag der scheidenden Präsidentin besonders am Herzen. Außerdem hat sie sich mit Nachdruck für die gründliche Aufarbeitung einer NS-Verstrickung der ersten Richtergeneration des Bundesarbeitsgerichts eingesetzt und einen wissenschaftlichen Forschungsauftrag hierzu erteilt.
Das Bundesarbeitsgericht führte während der Präsidentschaft von Frau Schmidt einen breiten und offenen Diskurs mit den Verbänden, der Anwaltschaft sowie den Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern. Das gemeinsam mit dem Deutschen Arbeitsgerichtsverband veranstaltete Europarechtliche Symposion trug dazu ebenso bei wie zahlreiche Fachgespräche. Für einen intensiveren Austausch mit den Richterinnen und Richtern der Arbeitsgerichtsbarkeit in den Ländern hat das Bundesarbeitsgericht auf ihre Initiative das Format „Instanzen im Dialog“ aus der Taufe gehoben. Dieses bietet Gelegenheit zur ausführlichen Diskussion arbeitsrechtlicher Fragen mit den Richterinnen und Richtern des Bundesarbeitsgerichts.
Während der größten Gesundheitskrise in der Bundesrepublik in den Jahren 2020 und 2021 hat das Bundesarbeitsgericht unter Leitung von Frau Schmidt die außergewöhnlichen Herausforderungen für die Rechtspflege störungsfrei bewältigt. Nicht nur vor diesem Hintergrund war ihr die weitere Digitalisierung des Gerichtsbetriebs ein wichtiges Anliegen. Sie hat sich während der letzten Jahre ihrer Amtszeit mit großem Weitblick und Engagement um die Einführung der elektronischen Akte beim Bundesarbeitsgericht verdient gemacht und die damit verbundenen langwierigen Prozesse erfolgreich vorangetrieben.
Als Herausgeberin und Autorin bedeutsamer arbeitsrechtlicher Publikationen, vornehmlich zum Betriebsverfassungs- und Befristungsrecht, hat Frau Schmidt den wissenschaftlichen Diskurs nachhaltig bereichert. Sie ist Mitherausgeberin der „Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht“ und von „Recht der Arbeit“.
Das Bundesarbeitsgericht verabschiedet mit Frau Schmidt eine hochgeschätzte Präsidentin und Richterpersönlichkeit, die sich stets unprätentiös mit ganzer Kraft für die Belange des Gerichts eingesetzt und hierbei herausragende Erfolge im Dienste der Gleichberechtigung und des demokratischen Rechtsstaats erzielt hat.
Erfurt, den 1. Oktober 2021