Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg – Kammern Freiburg – vom 27. November 2023 – 9 Sa 27/23 – aufgehoben.
2. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Freiburg – Kammern Offenburg – vom 14. März 2023 – 5 Ca 202/22 – wird zurückgewiesen.
3. Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Leitsatz
Der Betriebsratsvorsitzende darf regelmäßig annehmen, dass die rechtzeitige Nachladung eines Ersatzmitglieds jedenfalls dann nicht mehr möglich ist, wenn ihm die Verhinderung eines Betriebsratsmitglieds erst im Lauf des Tags der Betriebsratssitzung zur Kenntnis gelangt.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über Entgeltkürzungen durch eine ablösende Betriebsvereinbarung.
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Der Kläger war bei der – nicht tarifgebundenen – Beklagten, die Metallwaren produziert und vertreibt, bis zum 31. Dezember 2022 beschäftigt.
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Am 4. Mai 2007 schloss die Beklagte mit dem in ihrem Betrieb gebildeten dreizehnköpfigen Betriebsrat die „Betriebsvereinbarung über NT ERA“ (BV 2007) ab, die zum 1. Januar 2008 in Kraft trat. Die Betriebsvereinbarung enthält ein neues Vergütungssystem, das sich am Entgeltrahmen-Tarifvertrag für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg (ERA-TV) orientiert. Nach § 5 BV 2007 erhalten sog. Überschreiter die Differenz vom alten zum neuen Monatsentgelt als Sockelbetrag ausgezahlt. Zudem ist dort geregelt, dass eine Verrechnung mit künftigen Tariferhöhungen nicht vorgenommen wird und der Sockelbetrag an künftigen Tariferhöhungen teilnimmt.
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Eine am 4. Dezember 2020 von der Beklagten und dem damaligen Betriebsratsvorsitzenden unterzeichnete Betriebsvereinbarung „Nachtrag zur Betriebsvereinbarung über NT ERA“ (BV 2020) sieht vor, dass der Sockelbetrag zum 1. Januar 2022 um 25 % gekürzt wird und die verbleibenden 75 % nicht mehr an künftigen Entgeltanpassungen teilnehmen. Da Streit darüber bestand, ob der der Unterzeichnung der BV 2020 zugrunde liegende Betriebsratsbeschluss vom 1. Dezember 2020 wirksam war, beschloss der Betriebsrat in seiner Sitzung vom 25. Juli 2023, die Beschlussfassung zu bestätigen. Zu dieser Sitzung, bei der acht Betriebsratsmitglieder und zwei Ersatzmitglieder anwesend waren, waren am 20. Juli 2023 elf Betriebsratsmitglieder und zwei Ersatzmitglieder geladen worden. Im Lauf des Vormittags des 25. Juli 2023 hatte ein weiteres Betriebsratsmitglied mitgeteilt, krankheitsbedingt nicht an der für den frühen Nachmittag anberaumten Sitzung teilnehmen zu können. Für dieses Betriebsratsmitglied wurde kein Ersatzmitglied geladen.
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Der Kläger hat im Rahmen seiner – im Jahr 2022 erhobenen – Feststellungsklage die Auffassung vertreten, er habe weiterhin Anspruch auf Zahlung von Arbeitsentgelt nach der BV 2007, deren Geltung er stillschweigend akzeptiert habe. Die Regelung in der BV 2020 über die Kürzung des Sockelbetrags sei wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam. Zudem habe der Unterzeichnung der BV 2020 durch den Betriebsratsvorsitzenden kein wirksamer Betriebsratsbeschluss zugrunde gelegen.
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Der Kläger hat zuletzt sinngemäß beantragt
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festzustellen, dass die mit Wirkung vom 1. Januar 2022 durchgeführte Kürzung des Sockelbetrags um 25 % und der Ausschluss des verbleibenden Betrags an Tarifanpassungen auf der Grundlage der Betriebsvereinbarung vom 4. Dezember 2020 ihm gegenüber unwirksam ist. |
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Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
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Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage auf die Berufung des Klägers zu Unrecht stattgegeben. Die zulässige Klage ist unbegründet.
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A. Die Klage ist zulässig.
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I. Ausweislich der Klagebegründung möchte der Kläger – abweichend vom Wortlaut des Klageantrags – festgestellt wissen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm auch für die Zeit ab dem 1. Januar 2022 eine Vergütung nach Maßgabe der BV 2007 und damit einen ungekürzten Sockelbetrag zu zahlen, der im Fall von etwaigen Entgelterhöhungen entsprechend anzupassen ist. Bei der gebotenen Auslegung umfasst das Feststellungsbegehren danach – wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich erklärt hat – die Anpassung des gesamten Sockelbetrags an von der Beklagten gewährte Erhöhungen des Arbeitsentgelts.
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II. Der so verstandene Antrag genügt den Anforderungen des § 256 Abs. 1 ZPO.
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1. Das vom Kläger geltend gemachte Klagebegehren kann Gegenstand einer Feststellungsklage iSv. § 256 Abs. 1 ZPO sein. Diese kann sich auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis sowie – wie hier – auf bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen oder auf den Umfang einer Leistungspflicht beschränken (st. Rspr., vgl. BAG 19. September 2023 – 1 AZR 281/22 – Rn. 16 mwN, BAGE 182, 34; 29. Juni 2022 – 6 AZR 411/21 – Rn. 44 mwN, BAGE 178, 201).
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2. Der Kläger verfügt auch über ein Interesse an der erstrebten Feststellung. Die Beklagte stellt einen Anspruch des Klägers auf Fortzahlung seines Arbeitsentgelts nach Maßgabe der BV 2007 in Abrede. Die Klage ist geeignet, den Streit der Parteien insgesamt zu beseitigen und das Rechtsverhältnis abschließend zu klären. Da Umfang und Höhe möglicher Zahlungsansprüche zwischen den Parteien nicht streitig sind, steht der grundsätzliche Vorrang einer Leistungsklage der Zulässigkeit des Feststellungsantrags nicht entgegen (vgl. BAG 19. September 2023 – 1 AZR 281/22 – Rn. 17, BAGE 182, 34; 24. Juni 2021 – 5 AZR 529/20 – Rn. 27 mwN). Etwas anderes gilt nicht deshalb, weil das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Ablauf des 31. Dezember 2022 geendet hat. Im Zeitpunkt der Klageerhebung war der klagebegründende Sachverhalt noch nicht abgeschlossen. Der Kläger war deshalb nicht verpflichtet, im Lauf des Rechtsstreits auf eine Leistungsklage überzugehen (vgl. nur BAG 12. März 2019 – 1 AZR 307/17 – Rn. 18 mwN).
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B. Die Klage ist unbegründet.
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I. Der Kläger hat für das Jahr 2022 keinen Entgeltanspruch nach Maßgabe von § 5 BV 2007. Die Regelung ist durch die BV 2020 abgelöst worden. Die BV 2020 ist – entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts – wirksam.
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1. Die BV 2020 verstößt nicht gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG.
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a) Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Eine tarifliche Regelung von Arbeitsbedingungen ist gegeben, wenn sie in einem nach seinem räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich einschlägigen Tarifvertrag enthalten ist und der Betrieb in den Geltungsbereich fällt. Auf die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers kommt es dabei nicht an. Der Verstoß gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG führt zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung. Die Sperrwirkung greift dagegen nicht, soweit es um Angelegenheiten geht, die nach § 87 Abs. 1 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen (st. Rspr., vgl. nur BAG 17. August 2021 – 1 AZR 175/20 – Rn. 19; 13. August 2019 – 1 AZR 213/18 – Rn. 41 mwN, BAGE 167, 264).
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b) Danach wird der Regelungsgegenstand der BV 2020 nicht von der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG erfasst. Dabei kann dahinstehen, ob der Betrieb der Beklagten dem fachlichen Geltungsbereich des ERA-TV unterfällt. Jedenfalls wäre die Sperrwirkung unter dem Gesichtspunkt einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG aufgehoben.
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aa) Nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hat der Betriebsrat in Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere bei der Aufstellung und Änderung von Entlohnungsgrundsätzen und der Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung, mitzubestimmen. Die betriebliche Lohngestaltung betrifft die Festlegung abstrakter Kriterien für die Bemessung der Leistung des Arbeitgebers, die dieser zur Abgeltung der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers oder sonst mit Rücksicht auf das Arbeitsverhältnis insgesamt erbringt. Mitbestimmungspflichtig sind die Strukturformen des Entgelts einschließlich der näheren Vollzugsformen. Entlohnungsgrundsätze iSd. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG sind die abstrakt-generellen Grundsätze zur Lohnfindung. Sie bestimmen das System, nach dem das Arbeitsentgelt für die Belegschaft oder Teile der Belegschaft ermittelt oder bemessen werden soll. Entlohnungsgrundsätze sind damit die allgemeinen Vorgaben, aus denen sich die Vergütung der Arbeitnehmer des Betriebs in abstrakter Weise ergibt. Zu ihnen zählen neben der Grundentscheidung für eine Vergütung nach Zeit oder nach Leistung die daraus folgenden Entscheidungen über die Ausgestaltung des jeweiligen Systems. Der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG unterliegt die Einführung von Entlohnungsgrundsätzen und deren Änderung. Die konkrete Höhe des Arbeitsentgelts wird nicht vom Beteiligungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG erfasst (vgl. BAG 21. Februar 2017 – 1 ABR 12/15 – Rn. 23; 5. Mai 2015 – 1 AZR 435/13 – Rn. 15 mwN).
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bb) Das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG wird bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber durch den Tarifvorbehalt des § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG, wonach der Betriebsrat nur mitbestimmen kann, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, weder beschränkt noch ausgeschlossen. Der tarifungebundene Arbeitgeber kann daher kollektivrechtlich das gesamte Volumen der von ihm für die Vergütung der Arbeitnehmer bereitgestellten Mittel mitbestimmungsfrei festlegen. Mangels Tarifgebundenheit leistet er in diesem Fall sämtliche Vergütungsbestandteile „freiwillig“, dh. ohne hierzu normativ verpflichtet zu sein. Bei der Verteilung der Gesamtvergütung hat der nicht tarifgebundene Arbeitgeber einen Entscheidungsspielraum, bei dessen Ausgestaltung der Betriebsrat mitzubestimmen hat. Die Betriebsparteien haben für die gesamten Vergütungsbestandteile Entlohnungsgrundsätze iSd. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG aufzustellen, durch die eine am Normzweck des Mitbestimmungsrechts ausgerichtete Verteilung erfolgt (BAG 21. Februar 2017 – 1 ABR 12/15 – Rn. 24 mwN).
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cc) Ausgehend hiervon hat das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen, die BV 2020 enthalte eine nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitbestimmungspflichtige Änderung eines im Betrieb geltenden Entlohnungsgrundsatzes. Anders als der Kläger meint, regelt die BV 2020 – ebenso wie § 5 BV 2007 – lediglich einen abstrakten Grundsatz für die Entgeltbemessung, nicht aber die absolute Entgelthöhe. Die Vorschriften legen die abstrakte Bemessung eines sog. Sockelbetrags bei sog. Überschreitern sowie dessen Schicksal bei künftigen – von der Arbeitgeberin freiwillig vorgenommenen – Tarifanpassungen fest. Durch die Kürzung des Sockelbetrags für eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern verschiebt sich der relative Abstand der jeweiligen Vergütungen zueinander, was zu einer Änderung der betrieblichen Entlohnungsgrundsätze führt.
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2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die BV 2020 nicht mangels eines ordnungsgemäßen Betriebsratsbeschlusses unwirksam. Der Betriebsrat hat den Abschluss der BV 2020 jedenfalls durch Beschluss vom 25. Juli 2023 genehmigt. Daher kann dahinstehen, ob der Betriebsratsvorsitzende bereits bei deren Unterzeichnung am 4. Dezember 2020 auf der Grundlage eines wirksamen Beschlusses des Gremiums gehandelt hat.
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a) Nach der Konzeption des Betriebsverfassungsgesetzes handelt der Betriebsrat als Kollegialorgan. Er bildet seinen gemeinsamen Willen durch Beschluss (§ 33 BetrVG). Eine nicht von einem ordnungsgemäßen Betriebsratsbeschluss getragene Erklärung seines Vorsitzenden ist (schwebend) unwirksam und kann daher keine Rechtswirkungen entfalten. Hat der Vorsitzende des Betriebsrats eine Betriebsvereinbarung unterzeichnet, die nicht auf einem zuvor vom Gremium gefassten wirksamen Beschluss beruht, kann dieser Mangel geheilt werden. Die von ihm abgegebene Erklärung ist entsprechend § 177 Abs. 1 BGB zunächst nur schwebend unwirksam und kann vom Betriebsrat rückwirkend genehmigt werden. Die vom Betriebsrat beschlossene Genehmigung wirkt entsprechend § 184 Abs. 1 BGB auf den Zeitpunkt der Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung zurück. Die Rückbeziehung der Genehmigungswirkung hat zur Folge, dass die vom Betriebsratsvorsitzenden ohne vorherigen wirksamen Beschluss des Gremiums unterschriebene Betriebsvereinbarung so zu behandeln ist, als sei sie bereits bei ihrem Abschluss wirksam geworden (vgl. ausf. BAG 8. Februar 2022 – 1 AZR 233/21 – Rn. 24, 33 mwN, BAGE 177, 112).
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b) Die rechtzeitige Ladung der Betriebsratsmitglieder einschließlich etwaiger Ersatzmitglieder unter Mitteilung der Tagesordnung nach § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG ist wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit von Betriebsratsbeschlüssen (vgl. BAG 15. April 2014 – 1 ABR 2/13 (B) – Rn. 32, BAGE 148, 26). Wird für ein zeitweilig verhindertes Mitglied ein vorhandenes Ersatzmitglied nicht geladen, ist der Betriebsrat regelmäßig an einer wirksamen Beschlussfassung gehindert. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Betriebsratsmitglied oder das bereits geladene Ersatzmitglied plötzlich verhindert und es nicht mehr möglich ist, das (weitere) Ersatzmitglied rechtzeitig zu laden (vgl. BAG 4. November 2015 – 7 ABR 61/13 – Rn. 39; 3. August 1999 – 1 ABR 30/98 – zu B II 2 a der Gründe, BAGE 92, 162).
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c) Eine bestimmte Frist für die Nachladung von Ersatzmitgliedern sieht das Gesetz nicht vor. § 29 Abs. 2 Satz 6 BetrVG bestimmt lediglich, dass für ein verhindertes Betriebsratsmitglied ein Ersatzmitglied zu laden ist. Auch die Ladung eines Ersatzmitglieds muss aber – ebenso wie die Ladung der Betriebsratsmitglieder – nach Maßgabe von § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG „rechtzeitig“ erfolgen. Welche Zeitspanne hierfür erforderlich ist, ist anhand der Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung zu beurteilen. Dabei kommt dem Betriebsratsvorsitzenden bei der Frage, ob eine – rechtzeitige – Nachladung noch möglich ist, eine Einschätzungsprärogative zu.
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aa) Die Regelung in § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG dient mittelbar der Willensbildung des Betriebsrats, indem sie dem einzelnen Betriebsratsmitglied eine sachgerechte Sitzungsvorbereitung ermöglichen und ihn vor unbedachten und unvorbereiteten Entscheidungen schützen soll. Die rechtzeitige Ladung unter Übermittlung der Tagesordnung soll ihm Gelegenheit geben, sich ein Bild über die zu treffenden Entscheidungen zu machen, und ihm die Möglichkeit eröffnen, sich ordnungsgemäß auf die Betriebsratssitzung vorbereiten zu können (vgl. BAG 24. Mai 2006 – 7 AZR 201/05 – Rn. 20 mwN; 28. April 1988 – 6 AZR 405/86 – zu II 3 c aa der Gründe, BAGE 58, 221). Damit wird eine demokratischen Grundprinzipien gerecht werdende Willensbildung des Betriebsrats gewährleistet und der Gefahr einer Überrumpelung einzelner Betriebsratsmitglieder bei der Beratung und anschließenden Abstimmung entgegengewirkt (BAG 15. April 2014 – 1 ABR 2/13 (B) – Rn. 26, BAGE 148, 26).
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bb) Für die Verpflichtung zur Ladung von Ersatzmitgliedern nach § 29 Abs. 2 Satz 6 BetrVG gilt insoweit nichts anderes. Zwar sieht das Gesetz an dieser Stelle nicht ausdrücklich vor, dass bei der Verhinderung eines Betriebsratsmitglieds auch das Ersatzmitglied „rechtzeitig“ zu laden ist. Ein solches Verständnis ist aber nicht nur nach Sinn und Zweck der Vorschrift geboten, es entspricht vielmehr auch dem aus der Gesetzesbegründung ersichtlichen Willen des Normgebers. Die Ladung von Ersatzmitgliedern soll eine ordnungsgemäße Durchführung der Betriebsratsarbeit sicherstellen. Dies setzt voraus, dass auch den Ersatzmitgliedern eine angemessene Zeit zur Verfügung steht, um sich sachgerecht auf die Sitzungsthemen vorbereiten zu können. Deshalb hat auch ihre Ladung „rechtzeitig“ iSv. § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG zu erfolgen (vgl. BT-Drs. VI/1786 S. 40).
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cc) Die Beurteilung, ob bei der Verhinderung eines bereits geladenen Betriebsratsmitglieds – oder Ersatzmitglieds – noch eine rechtzeitige Nachladung möglich ist, richtet sich nach den objektiven Umständen des Einzelfalls. Dabei ist auf der einen Seite zu gewährleisten, dass das Gremium – wie von § 29 Abs. 2 Satz 6 BetrVG bezweckt – möglichst vollständig besetzt ist. Andererseits muss dem nachgeladenen Ersatzmitglied – ebenso wie den ursprünglich geladenen Mitgliedern – eine ausreichende Zeit für eine sachgerechte Vorbereitung zur Verfügung stehen. Wie lang dieser Zeitraum sein muss, hängt insbesondere vom Umfang der Tagesordnung und der Komplexität der einzelnen Tagesordnungspunkte ab. Zudem ist darauf Bedacht zu nehmen, dass das Ersatzmitglied unter Umständen Vorbereitungen oder Absprachen zu treffen hat, bevor es seinen Arbeitsplatz verlassen kann, um mit der Einarbeitung in die Tagesordnung der Betriebsratssitzung zu beginnen.
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dd) Ist danach noch eine rechtzeitige Ladung eines Ersatzmitglieds möglich, hat diese zwingend zu erfolgen. Die Entscheidung hierüber liegt nicht im Ermessen des Betriebsratsvorsitzenden. Vielmehr „hat“ er nach § 29 Abs. 2 Satz 6 BetrVG für ein verhindertes Betriebsratsmitglied ein Ersatzmitglied „zu laden“. Hinsichtlich der Frage, ob eine Ladung angesichts der Umstände des Einzelfalls noch „rechtzeitig“ erfolgen kann, steht dem Betriebsratsvorsitzenden hingegen ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Mit Blick auf die von ihm zu berücksichtigenden Gesichtspunkte darf er dabei regelmäßig annehmen, dass die rechtzeitige Nachladung eines Ersatzmitglieds jedenfalls dann nicht mehr möglich ist, wenn ihm die Verhinderung eines Betriebsratsmitglieds erst im Lauf des Tags, an dem die Betriebsratssitzung stattfinden soll, bekannt wird.
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d) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der Beschluss des Betriebsrats vom 25. Juli 2023 wirksam zustande gekommen. Das Gremium war nach § 33 Abs. 2 BetrVG beschlussfähig. Elf Betriebsratsmitglieder sowie zwei Ersatzmitglieder waren ordnungsgemäß geladen worden. Der Betriebsratsvorsitzende war nicht gehalten, ein Ersatzmitglied für das Betriebsratsmitglied nachzuladen, das seine Verhinderung erst wenige Stunden vor der Betriebsratssitzung mitgeteilt hatte. Anhaltspunkte für die Annahme, der Vorsitzende habe seinen Beurteilungsspielraum überschritten, sind weder vom Kläger vorgetragen noch ersichtlich.
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3. Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit stehen der wirksamen Ablösung von § 5 BV 2007 nicht entgegen. Die Parteien einer Betriebsvereinbarung können von ihnen getroffene Regelungen jederzeit für die Zukunft abändern. Die neue Betriebsvereinbarung kann auch für Arbeitnehmer ungünstigere Bestimmungen enthalten. Im Verhältnis zweier gleichrangiger Normen gilt nicht das Günstigkeitsprinzip, sondern die Zeitkollisionsregel. Danach geht die jüngere Norm der älteren vor. Zwar kann eine neue Betriebsvereinbarung bereits entstandene Ansprüche der Arbeitnehmer nicht ohne Weiteres schmälern oder entfallen lassen. Die Möglichkeit einer solchen Rückwirkung normativer Regelungen ist durch das Vertrauensschutz- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip beschränkt (BAG 15. Dezember 2020 – 1 AZR 499/18 – Rn. 32; 13. August 2019 – 1 AZR 213/18 – Rn. 51 mwN, BAGE 167, 264). Ein Fall der Rückwirkung ist hier jedoch nicht gegeben. Die Betriebsparteien haben die BV 2020 am 4. Dezember 2020 mit Wirkung ab dem 1. Januar 2022 und damit für die Zukunft abgeschlossen. Etwas anderes würde auch dann nicht gelten, wenn der Betriebsratsbeschluss vom 1. Dezember 2020 unwirksam gewesen wäre. Die Genehmigung des Betriebsrats in seiner Sitzung am 25. Juli 2023 wirkt entsprechend § 184 Abs. 1 BGB auf den Zeitpunkt des Abschlusses der Betriebsvereinbarung zurück. Sie ist deshalb so zu behandeln, als sei sie bereits bei ihrem Abschluss wirksam geworden. Die damit verbundene rückwirkende Geltung begegnet auch im Hinblick auf § 75 Abs. 1 BetrVG keinen Bedenken. Wegen der normativen Vorgaben in § 184 Abs. 1 BGB müssen regelmäßig nicht nur der Arbeitgeber, sondern auch die Arbeitnehmer des Betriebs mit einer solchen Wirkungsweise der vom Betriebsrat erteilten Genehmigung rechnen (vgl. BAG 8. Februar 2022 – 1 AZR 233/21 – Rn. 33 mwN, BAGE 177, 112).
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II. Ein Vergütungsanspruch des Klägers nach Maßgabe der BV 2007 ergibt sich auch nicht aus einer einzelvertraglichen Abrede. Entgegen der Ansicht des Klägers bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Parteien hätten eine Anwendung der BV 2007 vertraglich – konstitutiv und zudem ausschließlich in ihrer damaligen Fassung – vereinbart. Nehmen Arbeitsvertragsparteien auf Betriebsvereinbarungen Bezug, ist die Verweisung typischerweise deklaratorisch gemeint. Die Parteien wollen damit regelmäßig nur klarstellen, dass die nach § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG unmittelbar und zwingend geltenden Betriebsvereinbarungen auch für das konkrete Arbeitsverhältnis gelten (vgl. BAG 9. November 2021 – 1 AZR 206/20 – Rn. 28 mwN; 13. März 2012 – 1 AZR 659/10 – Rn. 15 mwN). Hiervon abweichende Umstände hat der Kläger weder dargetan, noch wären solche erkennbar.
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C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 Satz 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
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Gallner |
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Ahrendt |
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Rinck |
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Dohna |
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Dirk Pollert |